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Brigade bricht nach Litauen auf "Wir schreiben hier Geschichte"

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Pistorius verabschiedet das Vorkommando für die erste permanente Brigade beim Bündnis-Partner Litauen. Die Soldaten sind Pioniere und stolz auf ihre Mission. Klar ist: Einfach wird sie nicht, aber sie könnte die Ostflanke der NATO ein gutes Stück sicherer machen.

Sowas nennt man wohl perfekte Bedingungen: Die Frühlingssonne strahlt und Boris Pistorius tut es ihr gleich, am Fuß der großen Ladeluke zum Transportflieger der Luftwaffe stehend. Das Vorkommando der deutschen Litauen-Brigade, das sich auf den Weg nach Vilnius macht, will der Verteidigungsminister persönlich verabschieden. 21 Hände sind zu schütteln, 21 deutsche Soldaten, die sich aus freien Stücken zum Dienst in Litauen entschieden haben, bilden die "Vorhut", so hat Pistorius sie zuvor in einer kurzen Rede genannt. Ihre Aufgabe wird es sein, den Weg zu bereiten für die knapp 5000, die nachfolgen sollen.

In Litauen wird die Bundeswehr den ersten Auslandsstandort einer Kampfbrigade in ihrer Geschichte gründen, auf keinen Fall zu verwechseln mit einem Auslandseinsatz der Truppe, da wird man im Gespräch sogleich korrigiert. Und wenn der Minister in seinem kurzen, öffentlichen Statement an die Soldaten gerichtet ihren "echten Pioniergeist" gelobt und über Neuland gesprochen hat, das hier betreten werde, dann legen die Soldaten selbst in puncto Feierlichkeit später im Flieger noch eine Schippe drauf.

Kamen auch mit Sperrgepäck: Die 21 Soldaten des Vorkommandos brachen heute von Berlin aus nach Litauen auf.

Kamen auch mit Sperrgepäck: Die 21 Soldaten des Vorkommandos brachen heute von Berlin aus nach Litauen auf.

(Foto: picture alliance/dpa)

"Wenn wir in Vilnius die Gangway herunter treten, schreiben wir Geschichte", sagt einer aus dem Kommando ntv.de. Zwei Kinder hat er und Erfahrung aus 1000 Einsatztagen im Irak, in Afghanistan, in Kuwait. "Ich weiß genau, was auf mich zukommt", zugleich ist Litauen für ihn etwas völlig anderes: "Wir können hier selbst gestalten, wir haben hier die Möglichkeiten, Pfähle für die Zukunft in den Boden zu rammen, für unsere Nachfolger das bestmögliche Ergebnis zu produzieren. Auch als Blaupause für zukünftige Brigaden."

"Einfach machen", nennt das ein anderer, "wie der Minister es gesagt hat. Etwas von Neuem zu beginnen, wo man Dinge tun kann, für die es noch keine eingefahrenen Wege gibt". Die Hoffnung sei, dass Dinge "einfach schneller und anders passieren" - anders, so mag man ergänzen, als sie seit vielen Jahren an deutschen Truppenstandorten vonstattengehen. Die Bundeswehr der Zeitenwende - schnell, agil, pragmatisch, selbstbewusst - auf litauischem Grund könnte sie schon Gestalt annehmen, das zumindest scheint die Hoffnung derer zu sein, die ab heute den Rahmen dafür abstecken sollen. Einer, der schon bald die Familie nachholen will, berichtet, er habe, als das Angebot zur Teilnahme kam, "zu Hause einmal kurz nachgefragt, und sofort kam das Okay. Die wissen auch, dass das eine einmalige Gelegenheit ist, beim ersten Kontingent, bei den ersten 21 dabei zu sein".

"Die Ankunft der Vorwärts-Truppe ist sehr wichtig für uns"

Doch so groß die Bedeutung dieser ständigen Brigade für die Bundeswehr selbst erachtet wird, erfüllt sie diesen Anspruch auch sicherheitspolitisch? Litauens Regierung will an dem Ja auf diese Frage keine Zweifel aufkommen lassen. Auch deshalb formuliert Verteidigungsminister Laurynas Kasciunas die ersten Sätze seines Presse-Statements zur Ankunft des Vorkommandos auf Deutsch: "Die Ankunft der Vorwärts-Truppe ist sehr wichtig für uns. Ihre militärische Präsenz ist der Beweis für die deutsche Zuverlässigkeit." Das sei wichtig für die ganze Region.

Untermauern will Litauen seine Wertschätzung mit der zügigen Einrichtung von Infrastruktur für deutsche Soldaten und ihre Familien: Es geht nicht nur darum, Truppenübungsplätze und Kasernen herzurichten an den geplanten Standorten in Rukla und Rüdninkai, sondern in der Hauptstadt Vilnius und in Kaunas sollen auch je eine Schule, ein Kindergarten und Wohnraum entstehen. Wie viele Soldatinnen und Soldaten tatsächlich ihre Familien mitbringen werden, lässt sich schwer einschätzen: "In unseren Modellierungen sehen wir: Ein Drittel der Deutschen könnte mit Familie kommen", sagt Kasciunas. "Darauf bereiten wir uns vor."

Mit dem ersten deutschen Auslandsstandort will Litauen an der NATO-Ostflanke eine "derartige Abschreckungsarchitektur aufbauen, dass niemand auf die Idee kommen könnte, das Bündnis auf Artikel 5 zu testen" - in dem Passus verpflichten sich die Mitgliedsländer zum gegenseitigen militärischen Beistand. Warum aus Kasciunas' Sicht deutliche Abschreckung nötig ist, wird bei einem Blick auf die baltische Landkarte klar: Litauen grenzt an Belarus und an die russische Ostsee-Exklave Kaliningrad. Eingekeilt zwischen diesen beiden russischen Einflusssphären ist das Land mit NATO-Partner Polen nur über einen schmalen Korridor dazwischen verbunden, die sogenannte Suwalki-Lücke.

In der Vergangenheit sah die Strategie für die baltischen Staaten vor, dass rotierende Streitkräfte mehrerer Nationen als eine Art "Stolperdraht" fungieren sollten, als ein Hindernis, das einen Angreifer erstmal aufhält, bis massivere Abwehr nachrückt. Sie halten die nötigen Strukturen vor, um im Ernstfall einen massiven Einsatz von NATO-Truppen nach sich zu ziehen. Dieses Szenario sollte zugleich abschreckend wirken.

"Die Frage ist: Wie glaubwürdig wäre es, dass man im Krisenfall noch massiv große Streitkräfte von Deutschland nach Polen und von dort über diesen schmalen Korridor nach Litauen bewegen könnte?", sagt Rafael Loss, Sicherheitsexperte am European Council on Foreign Relations.

Denn Belarus könnte dann bereits Aufmarschgebiet Moskauer Truppen sein und in Kaliningrad wäre wohl ebenfalls eine massive russische Militärpräsenz vorhanden. Zwischen beiden Gebieten hindurch müssten sich nachrückende deutsche Truppen mit schwerem Gerät nach Litauen bewegen, während die Suwalki-Lücke womöglich bereits von Russland attackiert würde, um den Baltenstaat von Polen abzukoppeln.

Aus Stolperdraht soll eine Mauer werden

Angesichts der Aggressivität von Russland "ist die NATO zu der Entscheidung gekommen, dass die bisher rotierenden Kampfgruppen in Bataillonsstärke nicht mehr reichen", sagt Loss. Es genügt nicht mehr, nur einen Stolperdraht zu ziehen, "der auch bedeutete, dass man den Angreifer aus besetzten Gebieten zurückwerfen würde", erklärt Loss. "Doch die Brutalität der russischen Besatzung ukrainischer Gebiete zeigt, dass etwas anderes als Vorneverteidigung für die Frontstaaten nicht akzeptabel ist."

Die fest stationierte deutsche Brigade bedeutet den Ersatz des Drahts durch eine Mauer. Das ist mit "Vorneverteidigen" gemeint: Eine substanzielle Kampfbrigade, die völlig eigenständig agieren kann, auch dadurch, dass sie starke Unterstützungskräfte zur Verfügung hat - Flugabwehr, ABC-Abwehr, Sanitäter, Logistik.

Hinzu kommt: Eine Truppe, die sich dauerhaft im Einsatzgebiet befindet, baut Nähe auf, zur Bevölkerung, zur Geografie, zum Umfeld. "Mit Präsenz über mehrere Jahre kennen sich die Soldaten dort dann tatsächlich aus, üben mit den litauischen Partnern und den multinationalen Verbänden und erreichen dadurch eine weit höhere Effizienz", so der Sicherheitsexperte.

Auch die 21 Soldaten des Vorkommandos - unter ihnen Spezialisten für IT, für Logistik und Infrastruktur - sind auf einen Dienst über mehrere Jahre eingestellt. Im Oktober werden sie von rund 130 weiteren Soldaten, dem sogenannten Aufstellungsstab, verstärkt. "Auch für diesen Stab haben wir schon jetzt so viele Freiwillige, dass wir die Gruppe drei- bis viermal füllen könnten", heißt es aus der Bundeswehr und soll signalisieren: Die Truppe steht hinter der Mammutaufgabe Litauen-Brigade.

Selbstverständlich ist das nicht, und welcher Kraftakt es wird, wenn man von 150 Soldaten bis Ende 2025 auf 4800 Soldaten bis Ende 2027 aufstocken will, das muss sich noch zeigen. Entscheiden wird sich der Erfolg auch an der Frage, ob die litauische Seite ihre Zusagen für den Aufbau der Infrastruktur einhält. Aus den Beständen der Bundeswehr sollen die Soldaten jedenfalls bestens versorgt werden. "Wir, das kann ich Ihnen versichern, werden alles tun, um die Brigade von Anfang an so auszustatten, wie sie ausgestattet sein muss", erklärte Minister Pistorius am Morgen. Die dadurch entstehenden Lücken in der Heimat seien schnellstmöglich zu schließen.

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Heeresinspekteur Alfons Mais, der intern massive Investitionen angemahnt hatte, um die Truppe zu Hause nicht ausbluten zu lassen, kann über diese Entscheidung zumindest etwas erleichtert sein. Alles Material, das nach Litauen geht, wird nachbeschafft. Auch wenn das im Einzelfall bis zu fünf Jahre dauern kann. "Da die Verlegung der Brigade früher läuft als geplant, müssen wir das Material aus den bestehenden Strukturen ausschwitzen, um sie erstmal auszustatten", sagt Mais ntv.de. "Das verlängert den Tunnel noch ein bisschen, aber mit der Nachbeschaffung erscheint am Ende wirklich Licht."

Das Vorkommando brachte Mais persönlich mit nach Litauen. "So wie die NATO-Partner im Kalten Krieg auf deutschem Gebiet Frieden und Freiheit geschützt haben, ist es heute unsere Aufgabe, auch außerhalb Deutschlands einen Angriff abzuschrecken", sagte Mais vor deutschen und litauischen Journalisten, da waren die 21 Soldaten schon aufgebrochen. Zunächst geht es für sie ins Hotel, aber schon am Dienstag startet in Vilnius die Wohnungssuche.

Quelle: ntv.de

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