Politik

Reisners Blick auf die Front "Zeit drängt, weil Russen in die nächste Offensive gehen wollen"

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Putin zündete am Sonntag eine Kerze für die Opfer an - und beschuldigte die Ukraine, mitverantwortlich für den Anschlag zu sein.

Putin zündete am Sonntag eine Kerze für die Opfer an - und beschuldigte die Ukraine, mitverantwortlich für den Anschlag zu sein.

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Putin versucht nach dem Terroranschlag in Moskau, die Wut und die Trauer für den Krieg zu nutzen, wie Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer im Gespräch mit ntv.de sagt. Außerdem redet er über die Angriffe auf Sewastopol und das Eindringen eines russischen Marschflugkörpers in den polnischen Luftraum.

ntv.de: Herr Reisner, bevor wir zur Lage an der Front kommen - der Terroranschlag in einer Konzerthalle bei Moskau erschüttert Russland. Putin hat eine Verbindung zur Ukraine hergestellt. Nehmen Sie das ernst oder ist das die reine Propaganda?

Markus Reisner: Man kann ganz klar sagen: Das russische Regime versucht, die Trauer und die Wut nach dem Anschlag zum eigenen Vorteil zu nutzen. Die Bereitschaft ist deutlich sichtbar, diesen Anschlag den Ukrainern in die Schuhe zu schieben. Obwohl nichts bewiesen ist. In russischen sozialen Netzwerken werden schon krude Verschwörungstheorien geteilt. In einem der brutalen Verhöre hat ein Attentäter gesagt, ihm sei Geld versprochen worden. Das passt angeblich nicht zum Bild des religiös motivierten Terroristen, der den Märtyrer-Tod sucht. Richtig ist aber, dass der IS in der Vergangenheit genauso Attentäter losschickt, die nicht unmittelbar sterben wollten. Sie sollten überleben und später nochmal zuschlagen können. Das andere ist die Richtung der Flucht, die angeblich auf die Ukraine verweist.

Oberst Reisner analysiert die Lage in der Ukraine jeden Montag bei ntv.de.

Oberst Reisner analysiert die Lage in der Ukraine jeden Montag bei ntv.de.

(Foto: ntv)

Was glauben Sie angesichts der bekannten Fakten? Ist es denkbar, dass die Ukraine irgendetwas damit zu tun gehabt haben könnte?

Die Frage ist, welchen Nutzen die Ukraine daraus ziehen würde. Das reine Töten von russischen Staatsbürgern würde doch nur dazu führen, dass die Menschen noch geeinter hinter dem russischen Präsidenten stehen. Hier lässt sich kein wirklicher militärischer Zweck herleiten. Ganz im Gegenteil. Man müsste damit rechnen, dass Russland noch entschlossener und brutaler vorgeht.

Schauen wir auf die militärische Lage an der Front. Zuletzt war die Frage, ob die Ukrainer die zweite Verteidigungslinie im Raum Awdijiwka halten. Wie ist dort die Lage?

Die Ukraine ist weiter unter großem Druck, insbesondere weil ihr weiterhin die notwendige Artilleriemunition fehlt. Das führt dazu, dass die Russen weiter langsam vorrücken. Bei Bachmut wurde die Ortschaft Iwaniwske eingenommen und bei Awdijiwka stehen sie nun faktisch vor der zweiten Verteidigungslinie. Auf einer Anhöhe bei Orlivka haben die Ukrainer eine Verzögerungsstellung errichtet. Die Russen versuchen derzeit, dort hinaufzukommen. Danach kommt dann schon die zweite Linie.

Man hofft also, die Russen möglichst lange aufzuhalten, um die zweite Linie möglichst weit auszubauen?

Genau. Die erste Linie war Awjdijiwka, die haben sie durchbrochen. An der zweiten Linie sind nun Bagger und andere Baumaschinen im Einsatz, die Gräben ausheben. Da gibt es den Panzergraben, um z. B. mechanisierte Fahrzeuge daran zu hindern, rasch vorstoßen zu können. Hinzu kommen Schützengräben in Zickzack-Form, damit einschlagende Granatsplitter nicht den ganzen Graben entlang wirken. Das wird dann, wenn zeitlich möglich, eingedeckt mit festen Elementen aus Beton oder mit Holz. So bildet man Stützpunkte, etwa auf Hügeln und versucht dann, mit weitreichenden Waffen das Umland zu kontrollieren. Wenn noch Zeit bleibt, verbindet man diese Stützpunkte noch. Hinzu kommen Minenfelder und Stacheldraht. Hinter den Stützpunkten gibt es noch eine Vielzahl von vorbereiteten Artilleriestellungen, die sich schnell wechseln lassen, um nicht dem russischen Gegenfeuer zum Opfer zu fallen. Die Zeit drängt auch deswegen, weil man weiß, dass die Russen nach der Schlammperiode im Frühjahr vermutlich wieder in die nächste Offensive gehen wollen.

Dank einer tschechischen Initiative haben europäische Länder mehrere Hunderttausend Artilleriegranaten für die Ukraine gekauft, die teils zeitnah geliefert werden sollten. Ist davon schon etwas zu sehen gewesen?

Momentan haben wir noch keine Berichte darüber. Zurzeit wird versucht, Munitionsreserven an der Front zu verteilen. Munition, die im Hinterland vorsorglich gelagert wurde, wird nun nach vorn gebracht. Noch gibt es also Munition, aber eben nicht ausreichend. Die Ukrainer müssen aber das verwalten, was schon im Land ist.

Wie sieht es mit der Munition für die Fliegerabwehr aus?

Da spitzt sich der Mangel zu. Das zeigt sich an den Abschussraten während der russischen Luftangriffe, die gerade in einer Kulminationsphase sind. Letztes Jahr lag die Abschussrate bei 80 bis 90 Prozent. Am vergangenen Freitag waren es nur 61 Prozent, am Sonntag 75 Prozent. Die Ukraine kommt hier mehr und mehr in den Bereich der Übersättigung. Das hat beispielsweise zu massiven Schäden an der Stromversorgung im Raum Charkiw geführt. Die Stadt wurde durch die massiven Zerstörungen praktisch vom Netz genommen.

Droht Charkiw ein neuer Eroberungsversuch? Wird die Stadt gerade sturmreif geschossen?

Dafür müsste man auf Satellitenbildern große russische Truppenverbände in Grenznähe sehen. Solche Bilder haben wir aber bisher nicht. Und es ist heutzutage schwierig, große Verbände etwa im Wald zu verstecken. Regionale Vorstöße sind nicht ausgeschlossen. Aber große Bewegungen wie zu Beginn des Krieges sehe ich nicht. Ich gehe davon aus, dass es eher um Vergeltung geht. Vergeltung für die Angriffe sogenannter russischer Freiwilligenverbände unter anderem auf Belgorod. Im Frühjahr bzw. Sommer sind weitere Angriffe und Vorstöße zu erwarten. Die Ukrainer gehen davon aus, dass die Russen versuchen, eine Gruppierung mit 100.000 Soldaten zusammenzuziehen.

Die Ukraine will - Stand Sonntag - erneut zwei Landungsschiffe auf der Krim beschädigt oder zerstört haben. Wie groß ist so ein Erfolg und was ist überhaupt noch von der Schwarzmeerflotte übrig?

Jeder militärische Erfolg muss sich messen lassen. Bei der Schwarzmeerflotte ist ein messbarer und eindeutiger ukrainischer Erfolg, dass diese sich weiter in Richtung Osten zurückziehen musste. Es gibt aber dadurch keinen unmittelbaren Einfluss auf die Landkriegsführung, und da wird der Krieg entschieden. Selbst wenn die russische Schwarzmeerflotte vernichtet wäre, würden die Kämpfe an Land weitergehen. Ich will die Erfolge nicht kleinreden, aber sie lassen sich vor allem im Informationsraum gut verwerten. Sie sollen zeigen, die Ukraine kann Momentum entwickeln, das ist die wichtige Botschaft.

Am Wochenende drang ein russischer Marschflugkörper zwei Kilometer in den polnischen Luftraum ein. Testet hier Russland die NATO oder ist Russland ein gefährlicher Fehler unterlaufen?

Ich gehe von einem Fehler der Russen aus. Viele Operationen laufen nahe der Grenze, sei es bei Angriffen auf Lemberg oder auf die Getreidehäfen nahe Rumänien und Moldau. Diese Flugkörper unterliegen auch technischen Fehlern. Man erkennt an der Reaktion der NATO, dass sie es genauso einordnet. Man protestiert natürlich, aber man weiß auch, dass es offensichtlich ein Fehler war. Damit besteht nicht die Gefahr, dass deswegen der Dritte Weltkrieg ausbricht.

Warum wird so ein Flugkörper nicht einfach abgeschossen? Damit könnte man vermutlich ukrainische Leben retten.

Eine Erklärung ist, dass man sieht, wohin der Flugkörper fliegt. Solange er keine Bedrohung ist, also beispielsweise nicht in Richtung Warschau fliegt, unternimmt man nichts. Auch weil es sein kann, dass herabfallende Trümmerteile am Boden noch massive Schäden anrichten. Außerdem möchte man nicht entblößen, wo sich die eigenen Fliegerabwehrsysteme befinden.

Hätte der Taurus diese Woche einen Unterschied gemacht?

Wenn der Taurus beispielsweise bei den Angriffen auf Sewastopol eingesetzt worden wäre, hätte es den einen oder anderen spektakulären Erfolg geben können. Ob das dann durchschlagend gewesen wäre, sei dahingestellt. Dafür müsste man über einen längeren Zeitraum Ziele entlang der Front angreifen, damit die Russen irgendwann nicht mehr in der Lage sind, ihre Verluste zu kompensieren. Genau das schaffen die Ukrainer bisher nicht. Sie schaffen es nicht, sie zu überwältigen, und so können die Russen sich immer wieder anpassen.

Mit Markus Reisner sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

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