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Rebellion entlarvt leere Drohung Zuerst brüllt Putin, dann schnurrt er

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Das Bild des starken Mannes ist ins Wanken geraten.

Das Bild des starken Mannes ist ins Wanken geraten.

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Seit dem Aufstand von Wagner-Chef Prigoschin tritt Putin insgesamt dreimal vor die Kamera. Spricht er in seiner ersten Rede zunächst von Verrat, lässt der Kreml-Chef in den darauffolgenden Tagen plötzlich Milde walten. Hinter der Verwandlung steckt eine wichtige Botschaft.

Ein ungeschriebenes Gesetz in Russland lautet: Niemand legt sich mit dem Präsidenten an. Kritik an der Regierung ist möglich - aber nicht am Staatschef, der ist tabu. Daran gab es bis zum vergangenen Wochenende keinen Zweifel. Dann übernahmen Söldner der Wagner-Gruppe ein regionales Militärkommando, marschierten 800 Kilometer quer durch Russland, schossen Flugzeuge und Hubschrauber ab, töteten russische Soldaten - und brachen die ganze Aktion dann wenige Stunden später wieder ab.

Noch absurder als der gescheiterte Aufstand selbst, der laut Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin angeblich gar kein Putsch gewesen sein soll, ist Putins Reaktion darauf. Nachdem er Prigoschins Vorgehen in einer ersten Rede als Meuterei bezeichnet hatte, das "unvermeidlich bestraft" werden würde, vollzog er in den Tagen danach eine 180-Grad-Wendung. Aus "Verrätern" werden plötzlich "Patrioten" und von einer Strafverfolgung ist ebenfalls keine Rede mehr. Wie passt das in das Bild des ewigen Herrschers, dem sich niemand in den Weg stellen darf?

In den 23 Jahren, die Putin bereits an der Macht ist, haben schon mehrere Rivalen im Zweikampf mit dem Kreml-Chef den Kürzeren gezogen und sind entweder ins Exil, ins Gefängnis oder in die Anonymität abgewandert. Auch ein Sturz vom Balkon oder ein Giftanschlag, wie zuletzt bei Kreml-Kritiker Nawalny, ist nicht ungewöhnlich. Boris Nemzow wurde 2015 in Moskau auf offener Straße erschossen. Nawalny und Nemzow setzten auf öffentlichen Protest. Prigoschin wählte mit seiner Rebellion einen anderen Weg, den nur jemand gehen kann, der eine Armee schwer bewaffneter Soldaten hinter sich hat: die militärische Konfrontation.

Putin bemüht sich um Schadensbegrenzung

Als am Samstag die ganze Welt dabei zugesehen hat, wie Prigoschin seine Truppen Richtung Moskau in Bewegung setzte, schien der Kreml wie erstarrt. Zwar sprach Putin von einem "Dolch in den Rücken" und drohte mit Bestrafung all jener, "die bewusst den Weg der Erpressung und der terroristischen Methoden eingeschlagen haben". Doch statt einzugreifen und den Vormarsch zu stoppen, ließ er die Wagner-Kämpfer ungehindert bis knapp 200 Kilometer vor Moskaus Tore marschieren.

Prigoschin widersprach Putin daraufhin erstmals öffentlich: "Der Präsident irrt sich schwer", sagte er in einer Sprachnachricht auf seinem Telegram-Kanal. "Wir sind Patrioten unserer Heimat". Trotzdem rief er seine Truppen kurz vor Moskau wieder zurück und beteuerte, dass der Aufstand nie Putin galt - sondern einzig der schlechten Militärführung und ihren Verantwortlichen, Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Oberbefehlshaber Waleri Gerassimow. Doch zu spät: Das Bild des starken Mannes war ins Wanken geraten.

Putin versuchte es mit Schadensbegrenzung. In einer weiteren Rede am Montag, der ersten seit der Umkehr der Wagner-Söldner, lieferte er eine Erklärung für das Nichtstun der Sicherheitsorgane: Auf seinen Befehl hin sei alles getan worden, um ein Blutvergießen zu verhindern. "Das hat Zeit gebraucht", sagte Putin in der vom Staatsfernsehen übertragenen Rede und behauptete: "Der bewaffnete Aufstand wäre auch so zerschlagen worden."

"Wenn er in die Enge getrieben wird, rettet sich Putin"

Was er dann sagte, verblüffte viele Beobachter. Statt der angekündigten Bestrafung dankte Putin den Wagner-Söldnern und lobte sie: Die meisten der Mitglieder seien auch Patrioten, die die richtige Entscheidung getroffen hätten, umzudrehen und nicht gegen ihre Brüder zu kämpfen, so Putin. Die 15 russischen Soldaten, die bei dem Marsch von der Miliz getötet wurden, erwähnte er nicht. Stattdessen versprach er den Wagner-Kämpfern Straffreiheit und gab ihnen die Wahl, sich der russischen Armee anzuschließen, zu ihren Familien nach Hause zu gehen oder ihrem Chef Prigoschin nach Belarus zu folgen.

Für den US-Historiker Timothy Snyder ist der plötzliche Sinneswandel Putins nur mit Wegducken zu erklären. "Wenn er in die Enge getrieben wird, rettet sich Putin", schreibt Snyder in einer Analyse. Die ständige Angst des Westens, was der Kreml-Chef tun könnte, wenn er sich bedroht fühle, sei offenkundig unnötig, so der Professor der US-Universität Yale. Denn trotz seiner ständigen Drohungen gegenüber dem Westen über "Eskalationen" und jetzt gegenüber Prigoschin und Wagner, sprechen seine Taten eine andere Sprache: Erst lässt er seinen Schoßhund Alexander Lukaschenko mit Prigoschin einen Deal aushandeln, dann lässt er alle Anklagen gegen ihn fallen.

In einer weiteren Rede am Dienstagvormittag versucht Putin, ein Narrativ zu zeichnen, dass nur wenig mit der Realität zu tun hat. Die "Menschen", die in die "Rebellion hineingezogen wurden", hätten gesehen, dass die Armee und das Volk "nicht auf ihrer Seite waren", behauptet er. Tatsächlich zeigen Videos aus Rostow am Don das genaue Gegenteil: Dort haben russische Bürger den Wagner-Söldnern bei ihrem Abzug zugejubelt. Auch dankt Putin den russischen Soldaten, dass sie einen "Bürgerkrieg" verhindert hätten - obwohl sich niemand von ihnen den Wagner-Söldnern entgegengestellt hat.

Solange Putin an der Macht ist, sei das seine Masche, so Snyder. Drohen und hoffen, dass die Drohungen Wirkung zeigen. "Wenn das nicht gelingt, wird er die Geschichte ändern." Mit seiner Verwandlung vom Tiger zum Kätzchen hat Putin sich selbst entlarvt.

Quelle: ntv.de

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