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Wahlkampf mit Syrern Die Abschiebe-Forderungen aus der CDU sind schäbig

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Wie in vielen anderen deutschen Städten feierten in Berlin-Kreuzberg nach Deutschland geflüchtete Syrer den Sturz von al-Assad.

Wie in vielen anderen deutschen Städten feierten in Berlin-Kreuzberg nach Deutschland geflüchtete Syrer den Sturz von al-Assad.

(Foto: picture alliance / dts-Agentur)

Syrien hat plötzlich die Perspektive, ein sicheres und freies Land zu werden. Da stellt sich natürlich die Frage nach dem Verbleib der nach Deutschland geflüchteten Syrer. Die Art und Weise, wie die CDU die Debatte vorantreibt, ist so kurzsichtig wie unanständig.

Man muss sich das einmal vorstellen: Im Nahen Osten vollziehen sich tiefgreifende Umwälzungen. Alles scheint nach dem Sturz von Baschar al-Assad möglich. Ein sicheres und demokratisches Syrien, das zur Befriedung der ganzen Region beiträgt. Oder ein unrettbares Bürgerkriegsland, das seine Nachbarstaaten mit in den Abgrund reißt. Zwischen diesen Polen ist alles drin. Und was macht Deutschlands Kanzlerpartei im Wartestand in dieser historischen Situation? Stimmung gegen Syrer aus billigem Wahlkampfkalkül.

Keine Frage: Sollte Syrien absehbar wieder sicheres Herkunftsland werden, gehört die Debatte über den Verbleib hunderttausender Flüchtlinge in Deutschland auf die Tagesordnung. Doch wenn etwa die Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz in der "Bild" die sofortige Abschiebung syrischer Straftäter fordert, hat das mit einer differenzierten Diskussion nichts zu tun. Es gibt in diesen Tagen schlicht keine ordentlichen staatlichen Strukturen in Syrien. Was es gibt: die reale Gefahr, dass dort der Islamische Staat wiederaufersteht.

Wer genau soll eigentlich weg?

Sofortige Abschiebungen zu fordern, ist weder klug noch moralisch verantwortlich. Unrealistische Erwartungen in der Bevölkerung zu befeuern, verstärkt am Ende nur die Enttäuschung über die Demokratie. Lindholz, Spahn und Co. streuen den Menschen zudem Sand in die Augen. Abschiebungen von Straftätern sind keine Goldlösung: Der syrische Attentäter von Solingen galt bis zum Moment des Anschlags als unbescholten. In der Kriminalitätsstatistik tauchen Syrer seltener als Mehrfachtatverdächtige auf als andere Zuwanderergruppen.

Und überhaupt: Wer genau soll eigentlich gehen? Auch der vor drei Jahren wegen mehrfachen Ladendiebstahls verurteilte Heranwachsende, der inzwischen unauffällig und in Ausbildung ist? Die Zahl ausländischer Vergewaltiger und Islamisten ist zu hoch, niemand will die in Deutschland haben - und doch machen Intensivtäter und Radikale nur einen Bruchteil der hier lebenden Syrer aus.

250.000 Kinder einfach wegschicken?

Auch Lindholz’ Forderung, auf Bürgergeld und andere Transferleistungen angewiesene Syrer müssten möglichst schnell heim, ist mindestens undifferenziert. Wo zieht die CDU denn hier die Grenze zwischen integrierten und gescheiterten Syrern? Die typische Zuwandererfamilie sieht doch eher so aus: Papa arbeitet 40 Stunden knapp überm Mindestlohn im Schichtsystem im Wachschutz. Mama war schon in Syrien nicht berufstätig und kümmert sich um drei oder mehr Kinder. So eine Familie stockt das Einkommen mit Bürgergeld auf und ist auf Wohngeld und weitere Sozialleistungen angewiesen. Ansonsten lebt sie den feuchten Traum vieler Konservativer: Zur Förderung dieses Familienmodells hatte die CSU einmal die Herdprämie erfunden.

Auch die Herzlosigkeit dieser sich christlich nennenden Politiker überrascht: 250.000 Kinder, die überwiegend in Deutschland aufgewachsen sind und Syrien kaum oder nie gesehen haben, sollen schnellstmöglich weg, in ein vom Bürgerkrieg verwüstetes Land ohne klare Perspektiven auf Stabilität und Wiederaufbau? Es wäre sinnvoll, zuerst einmal über Voraussetzungen und Preis des Wiederaufbaus zu sprechen. Um ein befriedetes Syrien zu stabilisieren und so langfristig Ausgaben für Sozialleistungen an Syrer einzusparen, müsste sich Deutschland in Milliarden-Höhe engagieren. Wie lautet da eigentlich der Plan der Union für Deutschland, die vielen Bedarfe ohne Reform der Schuldenbremse zu bewältigen?

Merz könnte korrigierend eingreifen

Komplexe Fragen mit noch komplexeren Antworten eignen sich offenbar aus Sicht einiger Unionspolitiker nicht so gut zum Wahlkampf wie Schwarz-Weiß-Debatten über Geflüchtete. RTL-News-Chef Nikolaus Blome hat hier zu Recht kommentiert, dass die Aufnahme von Menschen, die vor Krieg und individueller Verfolgung fliehen, keine Einbahnstraße sein darf. Empörung über entsprechende Vorstöße aus der CDU sei daher fehl am Platz. Doch es ist wie immer im Leben: Der Ton macht die Musik.

Eine von Pragmatismus und Anstand geleitete Kanzlerpartei würde zuallererst die Integrationsleistung von hunderttausenden Syrern würdigen, die im Gesundheitssystem, als Lieferanten, Kfz-Mechaniker und Kassierer arbeiten. Und sie würde die Schutzverantwortung aussprechen, die wir als Gesellschaft faktisch übernommen haben für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder. Auch für solche Minderjährige, deren Eltern sich bisher nicht in den Arbeitsmarkt integriert haben.

Wer Syrer hingegen zuallererst und umgehend als abzuschiebendes Problem thematisiert, verhetzt die Stimmung im Land - und verprellt so ausgerechnet jenen Bruchteil an hochqualifizierten Syrern, die nach eigener Auskunft auch Union und AfD im Land halten wollen. Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz hat nach seiner Rückkehr aus Kiew die Chance zur Kurskorrektur. Wenn schon nicht aus Anstand, dann aus Kalkül: Womöglich muss er ja bald aus dem Bundeskanzleramt heraus erklären, dass die von seiner Partei befeuerten Abschiebefantasien mit der Realität leider doch nichts zu tun hatten.

Quelle: ntv.de

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