
Diesmal nicht einer Meinung: FDP-Chef Christian Lindner (l.) und Grünen-Chef Robert Habeck.
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Robert Habeck wollte die Debatte um eine AKW-Laufzeitverlängerung endgültig beenden. Mit seinem unlauteren Vorgehen erreicht er aber das Gegenteil. Doch auch Kernkraft-Befürworter sind unehrlich, wenn sie behaupten, die drei alten Atomkraftwerke würden Deutschland in der Not groß weiterhelfen.
Das war schon eine ganz große Show vom Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz. Robert Habeck ließ am Montagabend die vier Chefs der Übertragungsnetzbetreiber als Experten vor der Hauptstadtpresse auflaufen, um die Ergebnissen des von seinem Ministerium in Auftrag gegeben Stresstests zur Energiesicherheit zu präsentieren. Und was die Experten da sagten, war einigermaßen beruhigend.
Deutschland hat demnach im kommenden Winter grundsätzlich kein Stromproblem, weil auch ohne russisches Gas genügend Strom produziert werde und im Ernstfall Strom aus dem Ausland importiert werden könne - so wie Frankreich derzeit seine vielen Atomkraftwerksausfälle mit Stromimporten aus Deutschland kompensiert. Habeck ist dennoch mit seinem eigentlichen Ziel gescheitert, die Debatte um eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke ein für alle Male zu beenden. Und daran trägt er eine gehörige Mitschuld.
Denn dass der Grüne den Vortrag der Experten mit seiner Entscheidung verknüpft hat, zwei Atomkraftwerke noch bis Mitte April in der Notreserve zu belassen, dann aber endgültig das Thema Atomstrom in Deutschland zu beenden, ist unlauter. Habeck zielte erkennbar darauf ab, den Eindruck zu erwecken, die Netzbetreiber trügen seine Entscheidung mit all ihrer Expertise mit. Doch erstens ist derlei gar nicht ihre Aufgabe, zweitens haben sie sich zu Habecks Entscheidung nicht positioniert und drittens haben sie in ihrem Stresstestergebnis durchaus Argumente aufscheinen lassen, die für einen verlängerten Streckbetrieb oder gar eine Laufzeitverlängerung sprechen könnten.
Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass ein Weiterbetrieb der drei verbliebenen AKW, die zum Jahreswechsel hätten den Betrieb einstellen sollen, sehr wohl in Krisenzeiten helfen könnte. Dann nämlich, wenn in Deutschland extrem viel Strom abgefragt wird, im Land nicht genügend produziert wird und ausländische Stromproduzenten wegen eigener Probleme nicht aushelfen können. Da müsste zwar schon sehr viel zusammenkommen, aber Habeck beteuerte ja selbst: "Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen." Tritt also ein solches Szenario ein, könnte die höhere Grundauslastung im deutschen Netz durch den AKW-Weiterbetrieb dazu führen, dass im durchgerechneten Ernstfall nur 4,6 statt 5,1 Gigawatt Strom zur Deckung des zugrunde gelegten Bedarfs fehlen.
Die Netzbetreiber stellen eine Reihe von anderen Empfehlungen voran, die einen jeweils größeren Effekt zur Absicherung haben sollen. Ein AKW-Weiterbetrieb wird dennoch als Option für mehr Netzsicherheit gelistet. Dass Habeck aber den möglichen Atomstrombeitrag abwägt gegen andere - seiner Darstellung nach ausschließlich sicherheitstechnische - Argumente, ist seine Sache als zuständiger Minister. Er kommt zu dem Schluss, dass die Risiken den Nutzen nicht rechtfertigen. Dazu aber haben die Netzbetreiber nichts gesagt.
Atomkraftwerke als Rettungsanker?
Auch Habecks Annahme, dass im Winter 2023/2024 die Gesamtlage viel entspannter sein werde, weil dann genügend Gas aus anderen Quellen, vornehmlich Flüssiggas aus Katar und Nordamerika, zur Verfügung steht und die geplanten Eingriffe in den Strommarkt bis dahin eine Preissenkung bewirkt haben werden, ist erst einmal genau das: eine Annahme. Nichts davon war Teil des Stresstests. Es wäre ehrlicher gewesen, hätte Habeck die Vorstellung der Prüfergebnisse und die Präsentation seiner Schlussfolgerungen entkoppelt. So aber hat er FDP und Union nur Futter gegeben, die Debatte umso lauter zu führen, obwohl sie sich dabei kein bisschen ehrlicher verhalten.
Die Experten in Union und FDP wissen, dass der Atomausstieg gesetzlich beschlossen und nicht per Handstreich aufzuheben ist. Ihnen ist bekannt, dass das Kraftwerk Lingen mit fast aufgebrauchten Brennstäben arbeitet, die für die ganze Winterdauer nicht zu gebrauchen sind und der Betreiber RWE auch kein Interesse an einem Weiterbetrieb zeigt. Sie wissen, dass die deutschen Atomkraftwerke nur noch wegen einer Sondergenehmigung im Betrieb sind, obwohl die periodische Sicherheitsüberprüfung überfällig ist und in dem Moment, wo sie vorgenommen wird, erst einmal ein Herunterfahren der Kraftwerke verlangt, um echte Tiefenchecks vorzunehmen.
Sie wissen auch, dass die Einsparung von 0,9 Terawattstunden in deutschen Gaskraftwerken nur einem Bruchteil des deutschen Stromverbrauchs von 580 Terawattstunden (Jahr 2019) entspricht. Sie wissen, dass Atomkraft wegen der niedrigen Pegelstände in Frankreichs Flüssen und technischen Problemen mit den dortigen Anlagen zur Stromkrise im laufenden Sommer beigetragen hat. Sie wissen, dass die Behauptung, etwas mehr deutscher Atomstrom im europäischen Strommarkt senke die Preise spürbar, in erster Linie eine Hoffnung ist. Zumal die geplanten Eingriffe in den Strommarkt den Preishebel-Effekt der teuren Gaskraftwerke absehbar aufheben sollen.
So drängt sich der ernüchternde Eindruck auf, dass sich die beteiligten (Streit-)Parteien im Angesicht einer sich anbahnenden Wirtschaftskrise für etwas politischen Raumgewinn in Kleinigkeiten verkämpfen. Robert Habeck wollte vier Wochen vor den Landtagswahlen im Atomkraft-sensiblen Niedersachsen der Debatte um eine womöglich doch zu erwägende Laufzeitverlängerung die Luft entziehen. Aus gleichem Grund geben sich Union und FDP als unideologische Vorkämpfer und inszenieren die deutsche Atomkraft als Rettungsanker, der sie aus oben beschriebenen Gründen unmöglich sein kann. Die Bürgerinnen und Bürger sowie die um ihr Überleben bangenden Unternehmen wären besser bedient, die Beteiligten konzentrierten sich ohne Show-Gehabe auf die sichere und vor allem bezahlbare Versorgung mit den Energieträgern, die in relevanter Menge zur Verfügung stehen.
Quelle: ntv.de