Person der Woche: Selenskyj Das blutige Kursk-Geheimnis: Darum trifft die Schlacht Putin ins Mark
13.08.2024, 10:06 Uhr Artikel anhören
Der Überraschungsvorstoß ukrainischer Truppen auf Kursk hat den Kreml entsetzt. Nicht nur militärisch verändert der Handstreich die Lage. Politisch und psychologisch trifft die Offensive Putin schwer - aus zwei historischen Gründen.
Die Nachrichten sind für Wladimir Putin ein Desaster: Sein Überfallkrieg ist im eigenen Land angekommen. 130.000 Russen sind auf der Flucht und der Vormarsch der Ukrainer in der russischen Region Kursk ist nach bald zwei Wochen noch immer nicht gestoppt. Der ukrainische Militär-Telegramkanal DeepState berichtete von mindestens 44 "befreiten" Ortschaften in der Oblast Kursk.

Der Untergang des U-Boots "Kursk" vor 24 Jahren markiert den Anfang der Putin-Ära. Das Bild zeigt den jungen Präsidenten im Gespräch mit dem damaligen Verteidigungsminister Igor Sergejew.
(Foto: picture-alliance / dpa)
Militärexperten zweifeln zwar, ob das ein nachhaltiger Befreiungsschlag für Kiew sein kann. Die Ukraine riskiere eine Zersplitterung ihrer Verteidigungsressourcen und es drohe ein verlustreiches Zurückdrängen binnen weniger Wochen. Gleichwohl hat der Handstreich erst einmal drei positive Folgen für die Ukraine: eine militärische, eine politische und eine psychologische.
Plötzlich wieder Momentum für Kiew
Zum einen verändert der Überraschungsangriff die militärische Lage zugunsten der Ukraine. Russland könnte sich gezwungen sehen, Truppen und Waffen von der Donbass-Front abzuziehen, wo Putins Truppen zuletzt die Überhand gewonnen hatten. Zugleich verschafft sich die Ukraine neue Pufferzonen in Gebieten, von denen aus Russland Angriffe gestartet hat. Vor allem aber wird Russland nun selbst zum Schlachtfeld. Der ukrainische Oberbefehlshaber Olexander Sirski habe "den Krieg auf das Territorium des Aggressors verschoben", betonte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht ohne Stolz.
Zum zweiten gewinnt die Ukraine mit dem Vorstoß nach Russland politischen Spielraum zurück. Mit dem besetzten Territorium erhält man plötzlich ein Faustpfand, das bei Verhandlungen wichtig werden kann - etwa um eigene, verlorene Gebiete zurückzutauschen. Kiew signalisiert zugleich den eigenen Truppen, der ukrainischen Bevölkerung und den westlichen Verbündeten, dass das angegriffene Land wieder die Initiative erlangen kann. Das dürfte die Moral stärken, denn plötzlich dreht die Ukraine das Narrativ eines verlorenen Krieges. Russland soll nach Selenskyjs Darstellung nun zum Frieden "gezwungen" werden. In einer Ansprache erklärte er: "Wenn Putin so sehr kämpfen will, muss Russland gezwungen werden, Frieden zu schließen."
Mit der "Kursk" fing alles an
Der dritte Effekt zielt auf Russlands Machtgefüge. Das ukrainische Husarenstück legt nicht nur russische Schwächen aller Welt offen. Es hat womöglich auch das Zeug, die Lage im Kreml zu destabilisieren. Die Oppositions-Zeitung "Moscow Times" berichtet unter Berufung auf Insider, dass Putin "vor Wut tobt". Die Überraschungsoffensive sei "ein Schock für das russische Militär und den Kreml". Dass die Ukraine es schaffe, mit Tausenden Soldaten ein Gebiet von 1000 Quadratkilometern zu erobern und russische Truppen gefangenzunehmen, untergrabe die Autorität der Führung in Moskau, die offenbar die Sicherheit der eigenen Bevölkerung nicht mehr gewährleisten könne. Putin selbst bezeichnet den Vorstoß ukrainischer Truppen als Versuch, die Lage in Russland zu destabilisieren, der Feind wolle "Zwietracht" säen.
Ganz gezielt haben die Ukrainer die Stadt Kursk ins Visier genommen. Denn Kursk ist für Russland ein hochsymbolischer, sensibler Ort. Selenskyj hat mit einem historischen Vergleich die Niederlage Russlands im Ukraine-Krieg prognostiziert. "Die Kursk-Katastrophe jährt sich heute zum 24. Mal", sagte Selenskyj mit Blick auf das russische Atom-U-Boot "Kursk", das am 12. August 2000 in der Barentssee gesunken war. Das war wenige Wochen nach Beginn von Wladimir Putins erster Amtszeit als Präsident und die offensichtliche Herzenskälte des neuen Staatschefs hatte Russland schockiert. "Das war der symbolische Beginn seiner Herrschaft", sagte Selenskyj. Mit Hinweis auf die ukrainische Offensive in der russischen Region Kursk prophezeite Selenskyj, man könne bereits sehen: "Kursk ist Putins Ende. Die Katastrophe seines Krieges".
Wo Russland die Nazis zurückschlug
Die Wahl von Kursk als Zielort der Offensive trifft zugleich einen noch tiefer sitzenden Nerv Russlands. In der Region, wo nun die ukrainischen Truppen vorrücken, fand 1943 die größte Panzerschlacht der Weltgeschichte statt. Hitlers Wehrmacht wagte einen letzten gewaltigen Angriffsversuch, die sogenannte "Operation Zitadelle". Am Ende der Schlacht hatten Hunderttausende Russen und Deutsche ihre Leben verloren. Die nominellen Verluste der Sowjetarmee überwogen die der Wehrmacht um ein Vielfaches - aber die Sowjetarmee gewann. Es war aus sowjetischer Sicht nach Stalingrad der größte und schmerzlichste Triumph im Zweiten Weltkrieg.
Kursk bedeutete den strategischen Wendepunkt im deutsch-sowjetischen Krieg, die Wehrmacht verlor hier endgültig die Initiative. Seit Jahrzehnten steht daher der Name Kursk in Russland für den Mythos der eigenen Unbesiegbarkeit. Wenn Putin nun ausgerechnet dort Niederlagen beigebracht werden, dann beschädigt das seinen Nimbus als unumstrittener Autokrat schwer. Selenskyj hat also das Datum und den Ort der Offensive bewusst gewählt - er trifft Putin damit ins Mark.
Quelle: ntv.de