
Scholz war eigenen Angaben zufolge zuletzt vor 40 Jahren in Hamburg-Rahlstedt im Freibad.
(Foto: IMAGO/Chris Emil Janßen)
Politik ist Psychologie: Es ist unerheblich, ob die Gewalt auf der Liegewiese zunimmt oder nicht. Entscheidend ist, dass sich die Politik sichtbar kümmert.
Jeden Sommer dasselbe: Statt bei 38 Grad mit einem halben Pfund überfrittierten Pommes im Bauch direkt ins Wasser zu springen, wie von führenden Ärzten empfohlen, stehen die Deutschen am Beckenrand und streiten um innere Sicherheit. Doch wie viel Migrantenprügel an der Wasserrutsche droht dem deutschen Michel, der deutschen Michaela denn wirklich?
Die Bilder jedenfalls sehen aus wie das, was ein KI-Bildgenerator auf die Eingabe "dunkle Typen prügeln sich in Massen, gefährlich, Horroroptik, hochauflösend, fotorealistisch" ausspucken würde. Ein "Brandbrief" aus dem Columbia Bad hatte im Juni für Furore gesorgt, darin zitieren die entnervten Autoren einen 15-Jährigen: "Sie haben es verdient, bespuckt und geschlagen zu werden", habe der gesagt.
Damit ist eine Gemengelage entstanden, die typisch ist für viele Konflikte zwischen linksprogressiven und Parteien mit Law-and-Order-Attitüde, wobei zu letzterer immer die AfD gehören, meistens die Union, aber manchmal, wir schauen zur wahlkämpfenden Bundesinnenministerin Nancy Faeser, auch die SPD. Im Pankower Sommerbad nutzten wiederum reaktionsschnelle Neonazis die Lage und demonstrierten: "Prügelt Euch am Mittelmeer", hieß es auf einem Banner.
Die Gewalt nimmt ab - ist das Gutmenschentum?
Ähnlich wie beim Klimawandel lässt sich triftig streiten, ob es sich bei Punktereignissen jeweils um einen Einzelfall oder Symptom eines systemischen Problems handelt. Wünscht man sich ein systemisches Problem, schaue man auf ein besonders betroffenes Bad oder eine besonders konfliktträchtige Region: Etwa Berlin. Seht her, ein Brandbrief! Polizeipräsenz! Ausweispflicht! Das Problem ist real!
Bevorzugt man die Einzelfallbetrachtung, findet man unter den über 6000 Bädern in Deutschland genug Unbetroffene, damit das Problem auf einmal angenehm klein aussieht. Und ist nicht Sommer, also alle vermeintlich wichtigen Themen doch bald wieder so egal wie ein Wildschwein, dass sich als Löwin identifiziert?
Den Mittelweg ging eine Journalistin der F.A.Z.: Berliner Bäder seien sicherer als zuvor, notierte sie, es gebe dort nur ein Viertel so viel Gewalt wie vor vier Jahren. Die Videos, die auf manchen Nachrichtenportalen als Beleg für die alltägliche Gewalt liefen, seien teils von 2014, wer das unterstreiche, sei doch wohl noch kein "Gutmensch". Ja, räumt die Journalistin ein, Gewalt durch Migranten nehme zu, da müsse man aber über die soziale Lebenslage sprechen, nicht über die Herkunft.
Kümmern ist kein Populismus
Andere wiederum, etwa das ZDF, differenzieren nach Arten der Straftaten und Alter der Täter, was wiederum zu dem Befund führt: Rohheitsdelikte und Jugendstraftaten steigen durchaus, es handele sich aber nicht um migrantische Gewalt - der Psychologe Ahmad Mansour wiederum macht durchaus kulturelle, nämlich patriarchalische Strukturen als Ursache aus.
An der unübersichtlichen Realität ist eines angenehm: Sie ist nicht ausschlaggebend dafür, wie die Politik reagieren muss. Ich weiß, das klingt unangenehm. Aber das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung entsteht nicht aus Zahlen, sondern Geschichten. Das kann man verfluchen - aber nicht ändern. Wer in einem Internetvideo oder direkt vor der eigenen Pommesgabel einen prügelnden Mob im Freibad sieht, möchte Antworten und nicht Debatten über soziale Lebenslagen führen.
Das schafft ein Dilemma: Politik, die auf das empfundene, punktuelle Sicherheitsgefühl Bezug nimmt, gerät sofort unter Populismusverdacht. Tut sie es aber nicht, gewinnt die AfD. Dabei ist es so schwierig nicht: Kümmern ist nicht Populismus. Der Unterschied ist simpel: Der Kümmerer reagiert auf eine existierende Angst, auch wenn die Gefahr womöglich größer scheint, als sie ist. Der Populist schafft diese Angst.
Die Ausweispflicht wirkt
Der Berliner Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und die Innensenatorin Iris Spranger (SPD) haben sich gekümmert. Sie stellten sich vor das schlagzeilenreiche Prinzenbad, sie kündigten Ausweispflichten an und versprachen Besserung. Ein bisschen sahen die beiden aus wie die Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück in der Finanzkrise, damals, im Jahr 2008. Ihre Einlagen sind sicher, Ihr Freibad ist sicher!
Tatsächlich scheint die Ausweispflicht Wirkung zu zeigen. Die Lage habe sich "deutlich beruhigt", teilte der Berliner Bäder-Chef Ende Juli mit. Wie jede praktikable Idee in Deutschland kann auch diese natürlich noch am Datenschutz zerschellen, wie die Berliner Zerschell- und Datenschutzbeauftragte Meike Kamp schnell verkündete - aber das ist ein anderes Thema, und das hatten wir an dieser Stelle schon.
Wegner und Spranger unterscheiden sich durch ihr Handeln auch vom CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Der schlug in Sachen Freibadmalaise gleich den Sofortknast vor. "Familien, die sich keinen Urlaub oder keinen Pool im eigenen Garten leisten können, müssen im Freibad mitansehen, wie junge Männer, oft mit Migrationshintergrund, gewalttätig werden. Sie haben den Eindruck, dass der Staat nur zuschaut", sagte Linnemann.
Er entwirft damit ein allgemeines Szenario zu einem punktuellen Problem - und schafft damit deutlich mehr Angst, als ohnehin schon da ist. Er reagiert damit aber nicht, denn der Sofortknast setzt Sofortrichter voraus - und das ist Sache der Länder. Linnemann reagiert deshalb populistisch.
Scholz muss sich kümmern
Der kommunikationsscheue Kanzler Olaf Scholz kann jedenfalls einiges im Freibad lernen: Nämlich, wie man sich kümmert, ohne Populist zu sein. Sein stärkster Trumpf gegen AfD-Höhenflug und Verdruss wäre das Klimageld für Bürger, mit dem die Koalition die Energiepreise abfedern wollte. Wo bleibt es?
Die industriepolitischen Maßnahmen der Ampel werden die Umfragewerte der AfD nicht drücken und die der Koalitionäre nicht heben. Der Bürger ächzt unter Verbraucherpreisen, nicht unter fehlenden Chipfabriken. Ludwig Erhard hat bekanntlich über die Wirtschaft gesagt, sie sei zu fünfzig Prozent Psychologie - dasselbe kann man über Politik behaupten.
Das Klimageld könnte dort wirken, wo die Menschen es spüren: Im eigenen Portemonnaie. Scholz wird das wissen: Er hat gute Erfahrung mit solchen Versprechen, seinen Erfolg in der Bundestagswahl verdankt er neben dem schwachen Unionskandidaten Armin Laschet seinem glasklaren Versprechen: 12 Euro Mindestlohn, eine Lohnerhöhung für 6 Millionen Deutsche, wie er kürzlich im Bürgerdialog ausnahmsweise prägnant formulierte.
Klimageld erst ab 2025?
Bundeskassenwart Christian Lindner mag haushalterisch davon halten, was er will: Das Klimageld muss her. Dieser Tage heißt es jedoch, die Maßnahme soll erst 2025 kommen – also im Jahr der Bundestagswahl. Die Deutsche Verwaltung! Alles sehr kompliziert! Sollte hinter diesen Begründungen eine wahltaktische Idee stecken, so ist sie brandgefährlich.
Noch viel gefährlicher als Schwimmen mit Pommes im Bauch.
Quelle: ntv.de