Pietreczko plagten große Zweifel Das steckt hinter dem neuen deutschen "Darts-Wunderkind"
16.10.2023, 19:13 Uhr
Ricardo Pietreczko spielte das Turnier seines Lebens, besiegte nacheinander die Weltmeister Stephen Bunting, Michael van Gerwen und Peter Wright.
(Foto: PDC Europe/Jonas Hunold)
Ricardo Pietreczko heißt der neue deutsche Darts-Star. Von Platz 63 aus ins Turnier gegangen, triumphiert der 28-Jährige sensationell auf der European Tour. Jetzt warten noch größere Turniere auf den Nürnberger, der vor dem Turnier nicht einmal wusste, ob er überhaupt antreten kann.
"Deutschland hat ein neues Darts-Wunderkind", ruft der britische Kommentator am späten Sonntagabend ins Mikrofon, als Ricardo Pietreczko ein Meisterwerk gelingt. Der 28-jährige Nürnberger gewinnt sensationell die German Darts Championship, das letzte von 13 Turnieren auf der European Tour, der zweithöchsten Turnier-Kategorie auf dem Feld der Profidart-Organisation PDC.
Beeindruckend und historisch ist der Triumph des neuen Weltranglisten-53. nicht nur, weil es erst der zweite Turniersieg eines Deutschen auf der European Tour ist, sondern weil sich Pietreczko in der entscheidenden Phase des Turniers in Hildesheim in einen nie dagewesenen Doppel-Rausch spielt. Im Halbfinale gewinnt "Pikachu", so sein Spitzname, gegen den dreifachen Weltmeister und Topstar Michael van Gerwen. Beim Stand von 6:6 gelingt dem Nürnberger ein 10-Darter, auf der Doppel 18 macht Pietreczko den knappen Sieg klar, sein niederländischer Star-Gegner bekommt keine Chance mehr, das Spiel für sich zu entscheiden. Die letzten sechs Versuche auf die acht Millimeter schmalen Doppelfelder trifft Pietreczko alle, am Ende steht eine Doppelquote von 77 Prozent in der Statistik. Zur Einordnung: 30 Prozent sind stark, 40 bis 50 Prozent Weltklasse, alles darüber fast schon unmenschlich stark.
Aber Pietreczko setzt im Endspiel gegen Wright noch einen drauf. Jeder (!) seiner acht Versuche landet im Doppelfeld, sodass "Pikachu" den Schotten mit 8:4 regelrecht zerlegt. Eine Doppelquote von hundert Prozent im Finale, das hat noch kein Turniersieger auf der European Tour geschafft. In Kombination mit dem Halbfinale gegen van Gerwen hat Pietreczko 14 Doppel in Folge getroffen. "Wow, solch ein Finishing haben wir noch nie gesehen", kommentierte der britische Darts-Experte Richard Ashdown bei X, vormals Twitter, die unfassbare Darts-Sensation.
"Teilnahme war nicht ganz sicher"
Pietreczko selbst war nach dem Triumph von Hildesheim sichtbar überwältigt. Als der entscheidende Dart im Doppel-16-Feld landete, lag "Pikachu" kurze Zeit später auf dem Boden, die Hände vor dem Gesicht. "Das fühlt sich gerade an wie im Traum. Ich habe schon öfter davon geträumt, hier oben einen Titel zu gewinnen. Aber dass es wirklich passiert, hätte ich nie gedacht."
Und tatsächlich ist der Titelgewinn auch deshalb sensationell, weil er so unerwartet daher kommt. Vor dem Turnier lag der Deutsche auf Platz 63 in der Weltrangliste, hat zwar insgesamt ein starkes Jahr gespielt, aber auf bitterste Art und Weise jeweils knapp die Teilnahme am World Matchplay und World Grand Prix verpasst. Und mental war Pietreczko offenbar nicht in bester Verfassung. "Ricardo war sich tatsächlich in den Tagen vor Hildesheim noch nicht einmal ganz sicher, ob er überhaupt an diesem Turnier teilnehmen würde", offenbart sein Manager Micha Wattenberg im Gespräch mit ntv.de.
Auf der Tour eher Eigenbrötler
Für den in Berlin geborenen und in Nürnberg wohnhaften Pietreczko ist der Sieg in der "Halle 39" in Hildesheim der vorläufige Höhepunkt einer nicht immer linear verlaufenen Karriere. Pietreczko hatte als Jugendspieler mit dem Dartspielen begonnen, nachdem ihm sein Vater ein Dartboard geschenkt hatte. Schnell zeigte sich sein Talent und enormer Trainingsfleiß, was ihn auch in die deutsche Super League, die größte PDC-Turnierserie für deutsche Spieler, spülte. 2015 kam er hier direkt ins Halbfinale, 2016 allerdings brach er die Super League vorzeitig ab. Ihm wurde daraufhin vorgeworfen, achtlos eine riesige Chance weggeworfen und anderen Spielern, die mehr Motivation gehabt hätten, die Teilnahme verwehrt zu haben.
Wegen der damals nicht immer professionellen Herangehensweise hatte er auch jahrelang ein angespanntes Verhältnis zur PDC Europe, dem Veranstalter der wichtigen Turnierserie.
Doch das ist mittlerweile längst vergessen. Spätestens seitdem Pietreczko Anfang 2022 der Durchbruch gelang, als er sich die Tourkarte und damit die Spielberechtigung für die Profitour der PDC sichern konnte, ist der 28-Jährige aus der deutschen Darts-Elite nicht mehr wegzudenken.
Auf dem Profizirkus geht "Pikachu" gewiss einen ganz eigenen Weg. Er ist nicht der Typ, der sich hinter den Kulissen mit allen bestens versteht und oft am "deutschen Tisch" sitzt - zusammen mit den anderen Stars der hiesigen Szene, wie WM-Halbfinalist Gabriel Clemens, Martin Schindler oder Florian Hempel. "Wenn ich ausgeschieden bin, gehe ich ziemlich schnell", erklärte Pietreczko einst gegenüber Sport1. "Außer es war ein schönes Spiel, dann ist es mir egal."
Selbstzweifel weggeschoben und weitergemacht
Viele negative Momente hatte Pietreczko in der Anfangsphase seiner Laufbahn auf der Profitour zu verdauen. In der ersten Jahreshälfte 2022 reihte sich Niederlage an Niederlage. "Das erste halbe Jahr war schwierig für mich. Da habe ich auch überlegt, ob ich die Tourkarte nicht doch lieber zurückgeben sollte, weil es mich vom Kopf her komplett fertiggemacht hat. Ich habe ziemlich viel verloren, bin eigentlich immer mit Minus nach Hause gekommen, aber da habe ich mich zum Glück herausgekämpft", sagte Pietreczko Anfang dieses Jahres in einem Interview mit dem Darts-Podcast "Checkout".
Und in der Tat wendete sich das Blatt just in dem Moment, als Pietreczko schon so gut wie aufgegeben hatte. "Pikachu" drehte auf, es reichte zwar nicht mehr für die WM-Teilnahme, doch bei den Players Championship Finals im November nahm er in der ersten Runde sensationell den topgesetzten Australier Damon Heta aus dem Turnier.
Die aktuelle deutsche Nummer drei konnte den Schwung ins neue Jahr mitnehmen. "Zu Beginn des Jahres war das gemeinsam aufgestellte Ziel, die Tourkarte zu halten. Schon die frühzeitige WM-Qualifikation war absoluter Bonus. Dass er nun der erste Deutsche ist, der ein PDC-Turnier live vor TV-Kameras gewinnt, ist unfassbar", sagt Pietreczkos Manager Wattenberg.
Vor allem seine unfassbare Stärke auf die Doppel - drittbeste Quote aller 128 Profis in diesem Jahr - hat ihm in 2023 viel Preisgeld gebracht. Umgerechnet knapp 85.000 Euro landeten in diesem Jahr auf dem Konto des Nürnbergers, alleine fast 35.000 Euro gibt es für den Triumph in Hildesheim.
Bis zu 14 Stunden Darts pro Tag
Noch vor wenigen Jahren hat Pietreczko auch für deutlich kleinere Summen am Board gestanden. Es gibt wohl kaum einen Spieler in Deutschland, der vor allem während der Corona-Zeit so viele Stunden täglich mit Dartspielen verbracht hat. Teils bis zu 14 Stunden täglich hat Pietreczko online Turniere gespielt, allenfalls für ein paar Hundert Euro Preisgeld. Darts, Schlafen, Darts, Schlafen. Das war zu diesem Zeitpunkt der typische Tagesablauf im Leben von Ricardo Pietreczko.
Nach der Schule hatte der heute 28-Jährige eine Ausbildung zum Maler begonnen, aber kurze Zeit später dann doch alles auf die Karte Darts gesetzt. Fortan nahm Pietreczko jedes noch so kleine Dorfturnier mit, um Geld zu gewinnen, seit einem Jahr sind die finanziellen Sorgen aber weg. Der Trainingsfleiß und stundenlange Turniere und Online-Sessions haben sich ausgezahlt.
Kein großes Turnier mehr ohne Pietreczko
Darts-Deutschland fragt sich nach dem Sensationssieg von Hildesheim jetzt völlig zurecht: Wo kann das noch hinführen? Schließlich hat Pietreczko nicht nur ein sattes Preisgeld eingefahren und schiebt sich immer weiter nach vorne in der Weltrangliste. Er hat sich durch den Erfolg auch für die European Championship Ende dieses Monats und den Grand Slam of Darts im November qualifiziert. Die erste WM-Teilnahme war eh schon lange fix und darüber hinaus werden auch das World Matchplay und der World Grand Prix, die anderen Mega-Events im PDC-Kalender, im kommenden Jahr ziemlich sicher nicht ohne den Nürnberger auskommen.
"Für Ricardo beginnt jetzt die heiße Phase mit etlichen TV-Turnieren. Ich traue ihm auch bei der WM viel zu und in der Zukunft kann es für Ricardo noch ganz weit nach oben gehen. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass Ricardo der erste Deutsche sein wird, der bei der PDC einen Major-Titel gewinnen wird", kommentiert Wattenberg.
Dass die European Tour ein Sprungbrett zu noch größeren Erfolgen sein kann, haben schon viele Spieler bewiesen. Luke Humphries ist das jüngste Beispiel. Der Engländer dominierte die Events im vorigen Jahr, konnte sich Anfang dieses Monats dann den ersten Major-Titel beim World Grand Prix sichern. Eine Garantie ist der Erfolg aber nicht. Das zeigt das Beispiel Max Hopp. Er gewann 2018 in Saarbrücken bei den German Darts Open als erster Deutscher ein European-Tour-Event. Doch der Erfolg führte ihn zwar kurzzeitig in den Dunstkreis der Spitzenspieler, doch danach folgte ein steiler Absturz. Hopp hatte es schwer, die Erwartungen einer ganzen Darts-Nation zu erfüllen. Aktuell ist der "Maximiser" nicht mehr auf der Profitour der PDC unterwegs.
Für Ricardo Pietreczko wird es darum gehen, weiter einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Dann wird aus dem neuen "deutschen Darts-Wunderkind" vielleicht irgendwann ein etablierter Spieler in der Weltspitze.
Quelle: ntv.de