"Wir wissen jetzt ..." Deutschlands Handballer haben eine neue Superkraft
14.01.2025, 18:34 Uhr
Renars Uscins ist die Symbolfigur für das neue deutsche Handball-Bewusstsein.
(Foto: IMAGO/Beautiful Sports)
Am Mittwoch startet die deutsche Handball-Nationalmannschaft in die Weltmeisterschaft - und hat eine Erfahrung im Gepäck, die in der Zukunft wertvoll sein soll. Ein Turnier hat alles verändert.
Die Älteren erinnern sich noch an dieses goldene Jahr des deutschen Handballs: 2016 führte der damalige Bundestrainer Dagur Sigurdsson den krassen Außenseiter Deutschland in Polen völlig überraschend zum EM-Titel. Auf dem Weg zum größten Triumph seit dem Sieg bei der Heim-WM 2007 schlug die DHB-Truppe die Großmächte Schweden, Dänemark, Norwegen und Spanien - und sorgte für ein schwarz-rot-goldenes Märchen. Wenige Monate später holte sie in Rio die Olympische Bronzemedaille. Es waren glänzende Zeiten. Was niemand ahnte: Anstatt künftig wieder auf Jahre Teil der globalen Ballwerfer-Elite zu sein, entfernte sich das DHB-Team Schritt für Schritt wieder von der Weltspitze.
Es gab desaströse Ergebnisse (wie Platz 12 bei der chaotischen Corona-WM 2021), bittere Enttäuschungen (Platz 7 bei der EM im Jahr darauf), oft wähnte man sich "nahe dran" oder wenigstens näher. Mittendrin war eine deutsche Handball-Nationalmannschaft nach 2016 nie. Ein K.-o.-Spiel konnte man seit dem Olympischen Viertelfinale in Rio nie wieder gewinnen. "Das tut jetzt erstmal brutal weh", sagte Linksaußen Rune Dahmke bei der WM im polnischen Gdansk 2023. "Immer nur fast da zu sein, reicht nicht." Im Viertelfinale war man trotz zwischenzeitlicher Führung gegen Frankreich letztlich völlig chancenlos. Das Scheitern wurde systemisch.
"Spieler geraten nicht in Panik"
Die Heim-EM im vergangenen Januar sollte den nächsten Schritt bringen, doch wie immer, wenn es um was ging, kollabierte das System. Unvergessen ist, wie sich Deutschlands Spielmacher Juri Knorr nach dem Halbfinal-Aus gegen Dänemark (26:29) selbst vernichtete: "Das Gefühl, in solch einem großen Spiel nicht alles rausgehauen zu haben, enttäuscht mich so. Es tut einfach weh, nicht alles gegeben zu haben", beschimpfte er sich.
Und auch am Tag danach wollte er seine Worte nicht relativieren: "Es ist enttäuschend, wenn man am nächsten Morgen aufwacht und sich denkt, es war mehr drin. Ich hatte mehr von mir erwartet, dass ich mehr Verantwortung übernehme, mein Herz auf der Platte lasse und alles reinhaue." Im Spiel um Bronze war man gegen Schweden völlig chancenlos. Eine große Enttäuschung. Mal wieder. Nah dran und doch weit weg.
Nun, da die Welt sich in Dänemark, Oslo und Kroatien trifft, um den Weltmeister auszuspielen, ist alles anders. In zwei Wochen im französischen Sommer hat sich die Mannschaft von Bundestrainer Alfred Gislason eine neue Superkraft erspielt: "Die Silbermedaille bei Olympia hat der Mannschaft mehr Selbstvertrauen gegeben. Wir wissen jetzt, wir können an einem guten Tag jeden Gegner schlagen - bis auf Dänemark vielleicht", erklärte der Isländer vor dem ersten Spiel seiner Mannschaft gegen Polen (Mittwoch, 20.30 Uhr/ARD und im Liveticker auf ntv.de).
Siege gegen jahrelang für Deutschland unschlagbar scheinende Schweden, Franzosen und Spanier, teils dramatisch herausgekämpft, glänzten am Ende silbern - und brachten eben die Gewissheit, dass man wieder dabei ist, wenn es etwas zu verteilen gibt. "Die Mannschaft hat sich weiterentwickelt. Die Spieler geraten nicht in Panik und machen sich keinen Stress, wenn es mal eine schlechte Phase gibt", sagte der Bundestrainer. Die Zeiten der Systemabstürze scheinen vorbei, gegen Weltmeister Frankreich bog man bei Olympia einen Sechs-Tore-Rückstand dramatisch um.
"Auch wir wollen Weltmeister werden"
Bei den ersten sportlichen Schritten in Silkeborg, wo das DHB-Team während seiner Vor- und dann auch in der Hauptrunde im Spielort Herning beheimatet ist, gibt man sich keine Mühe, die neue Kraft zu verstecken. "Wir wollen zu den besten Teams der Welt gehören", sagt Torwart Andreas Wolff, der bei allen großen Momenten der jüngeren DHB-Vergangenheit dabei war. "Jeder geht in das Turnier, um Weltmeister zu werden. Auch wir!"
Und Spielmacher Juri Knorr, der seit der kometenhaften Ankunft von Linkshänder Renars Uscins in der gehobenen internationalen Klasse nicht mehr nahezu alleine über Wohl und Wehe der deutschen Träume entscheiden muss, sekundiert: "Natürlich ist es unser Ziel, wieder Richtung Finale zu kommen und dann auch den Schritt Richtung Medaille zu gehen." Und Uscins, der die Franzosen mit 14 Treffern nach zweimaliger Verlängerung im Fußballstadion von Lille ins Tal der Tränen geschossen hatte, macht klar: "Wir wollen zeigen, dass es keine Eintagsfliege war."
13 Spieler stehen in Alfred Gislasons Aufgebot, die bei Olympia für das große Aha-Erlebnis gesorgt haben. In Dänemark, von wo es dann nach Oslo gehen soll, wo die Medaillen verteilt werden, ist eine Gruppe versammelt, die gemeinsam größte Herausforderungen in den wichtigsten Momenten erfolgreich gemeistert hat. Eine Qualität, die sie von gleich mehreren DHB-Generationen abhebt. Bei den Olympischen Spielen rang man Schweden gleich im ersten Gruppenspiel nieder (30:27) und sicherte sich so den perfekten Start ins Turnier. Diese Erfahrung lässt Gislason vor dem Auftakt ruhig schlafen - trotz der überaus fehlerhaften Auftritte gegen Brasilien.
"Endspiel" zum Turnierauftakt
Die holperigen Vorstellungen in den beiden finalen Vorbereitungsspielen, die das DHB-Team zwar beide gewann (32:25 und 28:26), dabei aber für deutlich mehr Sorgen als Rückenwind sorgte, eigneten sich, um die Sinne noch einmal zu schärfen. "Das macht mir schon Sorgen", sagte Gislason. "Jeder Spieler weiß, was man besser machen muss, um gut ins Turnier zu starten", versicherte Johannes Golla. Für den DHB-Kapitän steht fest: In allen Mannschaftsteilen muss eine Steigerung her, um zum Start nicht kalt erwischt zu werden. "Wir wissen, dass wir eine sehr konzentrierte Leistung brauchen, um mit einem Sieg ins Turnier zu starten. Das ist in gewisser Weise der Grundstein für ein gelungenes Turnier. Wenn wir gewinnen und eine gute Leistung zeigen, wäre dies das Beste, was passieren kann", sagte Golla.
Für Alfred Gislason, der zum WM-Start auf Rückraumspieler Franz Semper (muskuläre Probleme) verzichten muss, ist die Partie schon "wie ein Endspiel. Klar sind wir die stärkste Mannschaft in unserer Gruppe. Aber die Polen sind auch jung und spielen einen extrem schnellen Ball", warnte der Bundestrainer. Ein Stolperstein sollten die Polen aber nicht sein, bei allem Respekt.
Apropos Polen: "Alle haben das Potenzial, sich zu großartigen Spielern zu entwickeln", sagte der 65-Jährige. "Es fehlt aber noch die Erfahrung auf absolutem Topniveau. Das hat heute den Ausschlag gegeben. Wenn wir noch ein bisschen zusammenwachsen und noch ein bisschen mehr Erfahrung gegen Gegner auf solchem Niveau sammeln", sagte Weltklasse-Torwart Andreas Wolff, "wird uns das Glück bald auch 60 Minuten hold sein." Das war 2023, bei der WM in Gdansk nach dem bitteren Viertelfinalaus, das Rune Dahmke so "brutal weh" getan hat. Ein paar Spiele auf höchstem Niveau später wähnt sich die deutsche Mannschaft wieder da, wo sie mal war. Jetzt muss nur noch die Superkraft funktionieren.
Quelle: ntv.de