"Ab und zu a blede Sau" Hoffnungsvolle Rückkehr zum Schicksalsberg
04.01.2022, 10:44 Uhr
Karl Geiger bei einem Probedurchgang in Innsbruck.
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Auf dem Bergisel in Innsbruck endete schon mancher Traum von einem deutschen Sieg bei der Vierschanzentournee im Schnee von Innsbruck. Der Berg gilt als Schicksalsberg der deutschen Skispringer, die die Schanze eigentlich mögen. Eine echte Tragödie relativiert derweil alle sportlichen Ärgernisse.
Karl Geiger war heute vor einem Jahr völlig bedient: "Im Moment bin ich ziemlich angefressen und erwarte gar nichts mehr von der Gesamtwertung. Ist mir aber auch egal", schimpfte der eigentlich überaus besonnene Allgäuer vor einem Jahr in Innsbruck. Mit einem desaströsen ersten Sprung hatte er am 4. Januar 2021 am Bergisel jede Chance weggeworfen, in die Fußstapfen Sven Hannawalds zu treten. Der hatte 2002 die Vierschanzentournee gewonnen, das konnte kein Deutscher seitdem wiederholen. "Dass es dieses Jahr wieder so ist, da kriegt man einfach nur das Kotzen. Tut mir leid die Wortwahl", sagte Geiger bei Eurosport frustriert. Das sei einfach "saumäßig bitter".
Am Ende erkämpfte sich der Deutschenoch einen starken zweiten Platz in der Gesamtwertung der 69. Vierschanzentournee, in Innsbruck aber hatte er den Toursieg schon verloren. "Ich muss erst mal ein bisschen das System runterfahren. Momentan könnte ich echt überall reintreten. So kenn ich mich eigentlich gar nicht. Aber es ist halt doch emotional", sagte er in der ARD. Der Ärger des späteren Doppel-Weltmeisters war nur ein weiteres in der langen Reihe deutscher Frusterlebnisse auf der längst mehrfach um- und neugebauten Olympiaschanze von 1964 und 1976.
Nun ist die Skisprungelite der Welt wieder am Hang mit dem Blick auf den Friedhof von Innsbruck versammelt, der sich inzwischen den Ruf als "Schicksalsberg der Deutschen" erarbeitet hat. Was dem Alpinisten der Nanga Parbat ist, ist dem Skispringer der Bergisel. Ein Blick in die lange Geschichte des Springens zeigt, warum.
Schmitt stürzt und verliert die Tour
1999 war Martin Schmitt auf dem Höhepunkt seines Könnens, der Hype um die jungen deutschen Skispringer näherte sich langsam dem Siedepunkt. Schmitt war als Weltcupführender zur Tournee gereist, in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen gewann der damals 20-Jährige. Später verteidigte er seinen Titel als Gesamtweltcupsieger, wurde Weltmeister im Einzel von der Großchance und mit der Mannschaft. In Innsbruck aber ging alles schief: Anstatt den Lauf fortzusetzen, stürzte Schmitt bei schwierigen Bedingungen in der Qualifikation, im Wettkampf reichte es nur zu Platz 13.
"Ich bin eben auch nur ein Mensch und keine Maschine. Da kann man nichts machen, ich bin einfach mit der Schanze nicht zurechtgekommen", kommentierte Schmitt damals und schrieb den Gesamtsieg ab: "Die Tournee habe ich verloren, es hat keinen Sinn mehr, wenn ich in Bischofshofen noch einmal angreife." Der Angriff blieb dann auch aus: In Bischofshofen landete der Überflieger auf Platz 14 und rutschte noch vom dritten Platz der Tourneewertung ab.
Hannawald dominiert und fliegt Richtung Geschichte
Ganz anders als Martin Schmitt 1999 und Karl Geiger im vergangenen Jahr erging es 2002 Sven Hannawald. Auf seinem Weg in die sportliche Unsterblichkeit gewann er nach seinen Triumphen in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen auch das Springen am Bergisel - und segelte zwei Tage später in Bischofshofen als erster Springer überhaupt zum Grand Slam. 18 Jahre nach Jens Weißflog, der 1984 für sich und die DDR in Österreich gewonnen hatte, gab es zum ersten Mal wieder Jubel in Schwarz-Rot-Gold.
Der Wettkampf in Innsbruck, so sprudelte es damals aus Hannawald heraus, war "eine richtig geile Bombe. Das ist sensationell. Ich kapiere das alles gar nicht. Trotz des ganzen Nervendrucks gelingen mir einfach phänomenale Sachen." Im ersten Durchgang pulverisierte er mit dem Schanzenrekord von 134,5 Metern alle zarten Hoffnungen der Konkurrenz, aus Innsbruck reiste Hannawald mit umgerechnet 24 Metern Vorsprung auf den Gesamtzweiten Adam Malysz ab. Der Rest ist Sportgeschichte.
Freitag gewinnt - und stürzt bitter
Eine goldene Ära brach danach für die deutschen Springer allerdings nicht an im engen Kessel des Bergisel: Nach Hannawalds Wunderflügen von 2002 dauerte es wieder 13 Jahre, bis der nächste DSV-Athlet ganz oben stand. Richard Freitag gewann 2015 als bislang letzter Deutscher. Doch auch für den Sachsen sind die Erinnerungen an Innsbruck arg getrübt: 2018 war Freitag die deutsche Hoffnung auf einen Tourneesieg, nach den ersten beiden Springen betrug der Rückstand auf den führenden Kamil Stoch nur 11,8 Punkte.
Der 26-Jährige, inzwischen nicht mal mehr Teil des deutschen Tourneeteams, war Gesamtweltcupführender und in großer Form. Doch im ersten Durchgang starben binnen Sekunden alle Träume: Freitag landete bei starken 130 Metern, doch er kam zu Fall und verletzte sich. "Sehr starke Schmerzen" habe er, sagte der damalige Bundestrainer Werner Schuster, statt in den zweiten Durchgang kam Freitag ins Krankenhaus. Der Ärger im deutschen Lager war groß: "Es war definitiv zu viel Anlauf. Hier gibt es einen Technischen Delegierten, der eine andere Strategie verfolgt. Es war extrem schwierig", sagte Schuster im ZDF. In Bischofshofen ging Freitag nicht mehr an den Start.
Auch der einstige Gesamtweltcupsieger Severin Freund, der sich dieser Tage nach mehreren schweren Verletzungen wieder zurück in die Weltspitze kämpft und in der Qualifikation der beste Deutsche war, war mal auf Kurs "Tourneesieg" - bis er nach Innsbruck kam. 2016 gewann Freund in Oberstdorf, in Garmisch-Partenkirchen wurde er Dritter. Nur acht Punkte trennten ihn in der Gesamtwertung vom Führenden Peter Prevc.
Im Probedurchgang auf dem Bergisel prallte Freund dann mit dem Rücken auf den Schnee und zog sich eine schmerzhafte Hüftverletzung zu. Unter Schmerzen konnte er den Wettkampf und schließlich auch die Tour zu Ende bringen, in Innsbruck verlor er aber elf Punkte auf den späteren Gesamtsieger Prevc. "Es war wunderschön und hat extrem Spaß gemacht - mit kleiner Schrecksekunde und ein paar Blessuren", sagte Freund immerhin nach seinem abschließenden zweiten Platz in Bischofshofen mit einem kleinen Verweis auf seinen Sturz in Innsbruck.
"A blede Sau": Eisenbichler und der Bergisel
Seine eigene, wechselvolle Geschichte auf dem Innsbrucker Hausberg hat Markus Eisenbichler. Der Bayer ist nach einem starken Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen als Vierter nun der in der Gesamtwertung am besten platzierte Deutsche. "Der Bergisel ist halt ab und zu a blede Sau", sagte Eisenbichler 2021, nachdem sein Freund und Zimmerpartner Geiger sein Tourneeschicksal besiegelt hatte. Und Eisenbichler war bereits einmal mit besten Aussichten zumindest auf einen Podestplatz ins Auto nach Innsbruck gestiegen: 2017 war das, am Ende war er ein großer Verlierer einer wilden Windlotterie. Die 112 Meter aus dem ersten Durchgang waren eher ein Hüpfer, auf Rang 29 rettete er sich gerade noch so in den zweiten Durchgang, um noch ein bisschen was reparieren zu können.
"Wehe, die brechen ab", flehte er noch, doch der Jury lief die Zeit weg: Weil es am Bergisel auch nach dem jüngsten Umbau kein Flutlicht gab, blieb es nach einem ewigen ersten Durchgang bei einem Sprung für alle. Die Schuld am schlechten Sprung suchte Eisenbichler, der auf Platz 6 der Gesamtwertung zurückfiel, aber nicht bei anderen: "Ich ärgere mich eher, dass ich etwas zu früh am Tisch war. Mein Gott, es war halt einfach windig. Mal hat man es gut, mal hat man es schlecht", sagte Eisenbichler.
Richtig schlecht lief auch der zweite Durchgang im Januar 2019: Eisenbichler bot als einziger dem überragenden Ryoyu Kobayashi die Stirn, 4,2 Punkte trennten beide nach den ersten beiden Tournee-Springen. Doch 123,5 Meter waren nach einem passablen ersten Durchgang viel zu wenig, der Japaner sprang in der Tageswertung am Ende fast 15 Meter weiter.
Besser lief es nicht mal zwei Monate später an gleicher Stelle: "Ich bin überglücklich, ich fühle total viel Adrenalin, ich bin am Zittern gerade", freute sich Eisenbichler. "Das war einer meiner geilsten Sprünge überhaupt bisher. Jetzt bin ich Weltmeister, ich kann es gar nicht fassen", jubelte Eisenbichler am 23. Februar 2019, wenige Minuten, nachdem er sich am Bergisel zum Weltmeister von der Großschanze gemacht hatte - vor Geiger. "Beide haben bereits in der Qualifikation mit den Plätzen eins und zwei gezeigt, dass sie hier zurechtkommen", sagte Bundestrainer Werner Schuster.
Deutsche Hoffnungen sind intakt
Am Nachmittag (ab 13.30 Uhr/ZDF und im Liveticker auf ntv.de) geht es nun am Hang über Innsbruck wieder los. Die Deutschen hielten sich in der Qualifikation noch unauffällig: Keine Stürze, keine Flüge. Geiger landete auf Platz 10, Eisenbichler auf Platz 8. Severin Freund landete als bester Deutscher mit Bergisel-Vergangenheit auf dem sechsten Rang.
Wegen der belastenden Vorgeschichte hatte das deutsche Skisprung-Team im Sommer mehrmals am Bergisel trainiert. "Wir haben sogar unsere Wissenschaftler mitgenommen, Kameras aufgestellt und uns technisch neu auf die Schanze eingestellt", berichtete Horngacher. Es hat offenbar gewirkt: Eisenbichler hatte vor der Qualifikation im Training einen Traumsprung hingelegt und war dabei 139 Meter geflogen. "Markus hatte im Training einen Erste-Sahne-Sprung. Ich glaube, es war ein schöner Tag für ihn", sagte Horngacher.
Eisenbichler mag die Schanze ohnehin: "Innsbruck ist knifflig, aber bei gutem Wetter eine wunderschöne Schanze", sagte er. Den Wetterbericht wolle er sich vor dem Springen auf der extrem windanfälligen Schanze, wo "schon oft skurrile Dinge passiert sind" (Horngacher) aber nicht noch einmal anschauen. "Für was denn? Ich kann es eh nicht ändern. Soll ich dann eine SMS an Petrus schreiben und sagen: Du Spezi, kannst du mal ein bissl mehr Sonnenschein machen?"
Der Tourneesieger scheint schon festzustehen, zu stark und zu konstant springt der Japaner Ryoyu Kobayashi. Auch in der Qualifikation war der Sieger von Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen wieder allen davongeflogen. Doch die Tour haben hier schon andere verloren. Vielleicht wendet sich das Schicksal des zuletzt in der Windlotterie dreimal abgestraften Karl Geiger diesmal zum Guten? In jedem Falle fällt heute eine Vorentscheidung, mindestens statistisch: 23 Mal gewann in den letzten 25 Jahren der Springer die Gesamtwertung, der als Führender aus Innsbruck nach Bischofshofen reiste.
Die Hoffnung auf den ersten deutschen Gesamtsieg ist aber trotzdem noch intakt: "Wir werfen jetzt nicht die Flinte ins Korn und sagen: Alles ist Scheiße. Kobayashi ist extrem stark, aber wir müssen dranbleiben und alles geben, dass wir am Ende doch noch ganz oben stehen", sagt Bundestrainer Horngacher. "Ich komme immer besser in Form - und was der Kobayashi macht, ist mir egal. Ich habe bei meinem zweiten Sprung in Garmisch-Partenkirchen gezeigt, dass ich locker mit ihm mithalten kann", sagt Eisenbichler.
Eine wahre Tragödie
Doch all das ist nur Sport, es geht um Gewinnen und Verlieren, nicht mehr. Um Leben und Tod ging es am Bergisel auch schon, die "Bergisel-Tragödie" hat sich auf furchtbare Weise ins kollektive Gedächtnis nicht nur Tirols eingebrannt. Am 4. Dezember 1999, elf Monate, nachdem Martin Schmitt hier weit hinterher sprang und nur einen Monat, bevor die Tournee nach Innsbruck zurückkehrte, kam es bei einem Snowboard-Event im mindestens bis unters Dach gefüllten, vielleicht überfüllten Bergisel-Stadion zu einem Moment, in dem das reale Schicksal wirklich gnadenlos zuschlug: Fünf Mädchen verloren beim Verlassen des Kessels ihr Leben, zwei weitere junge Frauen erlagen noch Jahre später ihren schweren Verletzungen. Weitere 38 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, vier sind bis heute auf Pflege angewiesen. Erdrückt und überrollt wurden sie von einer Menschenwalze, die sich am Westausgang ihren Weg aus dem Stadion bahnte.
"Polizisten mussten Warnschüsse abgeben, um Sanitätern den Weg zu den Opfern freizumachen und um zu verhindern, dass Sanitäter selbst niedergetrampelt wurden", schrieb das ORF. Ein Schuldiger für das Drama wurde nicht gefunden, verschiedene Prozesse führten letztendlich zu Freisprüchen.
Quelle: ntv.de