
Peter Sobotta steigt regelmäßig mit in den Käfig und erklärt Feinheiten verschiedener Kampfsportarten.
(Foto: Michael Bauer)
Spitzensport konzentriert sich häufig in Großstädten und Metropolregionen. Das ist im Bereich der Mixed-Martial-Arts nicht anders, mit einer erfolgreichen Ausnahme. Ein Teil der deutschen Kampfsport-Elite ist im 34.000-Einwohner-Städtchen Balingen ansässig - und das aus mehreren Gründen.
Wo Blut, Schweiß und Tränen fließen, da sollte man genauer hinschauen. Wer jetzt dahinter den neuen "Tatort" vermutet, liegt falsch. Blut, Schweiß und Tränen sind feste Bestandteile der immer beliebter werdenden Sportart Mixed-Martial-Arts (MMA). Noch befindet sich MMA in der fußballverrückten Bundesrepublik in einer Nische. Da ist es fast schon sinnbildlich, dass ein Teil der deutschen Kampfsport-Elite, um den Sport aus eben dieser Nische zu befördern, aus einer Kleinstadt heraus operiert. Im baden-württembergischen Balingen konzentriert sich die MMA-Power im Planet Eater Gym von Peter Sobotta.
Normal ist das nicht, dass eine Herzkammer des MMA-Sports im 34.000-Einwohner-Städtchen südwestlich von Stuttgart schlägt, weit weg von Metropolen wie Berlin, Frankfurt oder Düsseldorf, die sonst den Puls in dieser Sportart vorgeben. MMA-Veteran Sobotta hatte es bis in die Ultimate Fighting Championship (UFC) geschafft - die absolute Eliteliga des Sports - und gibt nun sein Wissen an die nächste Generation weiter. Warum gerade bei ihm so viele gute MMA-Kämpfer mittlerweile ihre sportliche Heimat haben, dafür gibt es mehrere Gründe.
Der Name der Kampfsportschule verheißt ja schon großes. "Planet Eater", "Planetenfresser", mit einem Logo, auf dem ein muskulöser Sportler die Erdkugel verschlingen will. "Ein Fantasiename", wie Sobotta anmerkt. "Ich bin jetzt 35 Jahre alt und würde mein Gym heute nicht so nennen, aber als ich 22 war und wir das mit Freunden zusammen gegründet haben, fand ich das cool. Wir haben nach pompösen Namen gesucht, nach dem Motto: Wenn wir was machen, dann auch mit Ansage." Und aus der Ansage ist mittlerweile eine Konstante in der deutschen MMA-Szene geworden. Das Team der Profikämpfer ist eine Mischung aus regionalen Talenten und Fightern, die aus ganz Deutschland oder dem Ausland kommen.
Einmalige Energie auf der Matte
Die Entscheidungen in die schwäbische Provinz zu gehen, treffen einige der jungen Männer und Frauen ganz bewusst, um ihre Karriere voranzutreiben. In der Wirtschaftsgeografie würde man von "Brain Gain", also dem gezielten Abwandern von qualifizierten Fachkräften in eine bestimmte Region, sprechen. Das lässt sich in gewisser Weise auf den gesamten Sport Mixed-Martial-Arts übertragen. Besonders auf dem höchsten Niveau zieht es viele europäische Kämpfer in die USA, wo die Qualität und die Dichte der Trainingspartner am höchsten sind. Aber auch dort liegen die besten Gyms - ob an Ost- oder Westküste - in Metropolregionen und Großstädten. Eine Bewegung in Richtung ländlicher Raum - das ist ungewöhnlich.
Emilio Quissua hat sein komplettes Leben von Magdeburg ins Schwabenland verlegt. Der ehemalige Kickboxer wollte schon immer Profisportler werden, nach mehreren Trainingsbesuchen in Balingen "habe ich meine Freundin eingepackt und bin hier runter". Leicht sei ihm die Entscheidung nicht gefallen, aber der Traum stehe im Vordergrund: Irgendwann einmal in der UFC kämpfen. Und diese Vorstellung hat der 25-Jährige nicht exklusiv. "Hier im Gym sind viele andere, die das gleiche Ziel haben und das pusht extrem. Das habe ich in anderen Gyms nicht erlebt - diese Energie, die hier auf der Matte ist", so Quissua.
Stuckateure, Studenten, Vollzeitprofis
Die trainingsintensive Zeit sorgt für Zusammenhalt. "Das ist viel familiärer hier", betont Federgewicht-Kämpfer Arijan Topallaj mit schwäbischem Dialekt. Der gelernte Stuckateur hatte sich vor einigen Jahren entschieden, alles auf MMA zu setzen. Die sportliche Karriere nach der beruflichen Ausbildung ist ein Weg, es geht aber auch anders. Mert Özyildirim hat neben der sportlichen Laufbahn ein Studium in Fitnessökonomie abgeschlossen, mittlerweile ist er NFC-Champion im Federgewicht. Der 27-Jährige leitet mehrere Trainingseinheiten und kann das familiäre Verhältnis zwischen Trainern und Kämpfern noch besser einordnen. "Die sportliche Entwicklung wird dadurch enorm gefördert", so Özyildirim. "Ich möchte da mal den ehemaligen MMA-Kämpfer Dean Lister zitieren: Mit zwei Arten von Menschen mache ich hartes Sparring, wo ich alles geben kann: mit meinen engsten Freunden oder ärgsten Feinden. Die Freunde verzeihen und bei den Feinden ist es egal. Alles, was dazwischen ist, da fühlt man sich nicht so wohl."
Und trainiert wird bei den Profis zweimal am Tag. Mit wenigen Ausnahmen wie in Frankfurt oder Berlin gebe es das sonst nicht in Deutschland, betont Özyildirim. Im Gym am Rand von Balingen genießen die Sportler eine Art Rundumversorgung. Viele verbringen den ganzen Tag dort, einige leben sogar zeitweise im Gym - dafür stehen gleich mehrere Zimmer bereit. Neben Sobotta gibt es zudem spezialisierte Trainer im Bereich Ringen und Boxen sowie einen Physiotherapeuten. Zwei MMA-spezifische Trainingsflächen mit Käfig und ohne, einen Bereich für Kraft-, einen für Ausdauertraining, einen Boxring, eine Sauna und Massagebereich.
17 Profis trainiert Sobotta in seinem Gym. Profi sein, das bedeutet in Deutschland, unter Profibedingungen kämpfen, in der Regel aber nicht von den Gagen leben zu können. So sind viele der Balinger Fighter auch gleichzeitig Trainer, unterrichten Freizeitsportler in Brazilian Jiu-Jitsu (BJJ), Boxen, Muay Thai. Von klein bis groß ist alles dabei. Rund 500 zahlende Mitglieder hat das Planet Eater. "Ohne die geht's nicht. Die finanzieren hier die Party", sagt Sobotta. Normalerweise würde das Gym an den Gagen seiner Kämpfer mitverdienen, in der Regel 10 Prozent pro Kampf. Bei Sobotta greift diese Regel erst ab 10.000 Euro Prämie und "da kommen bislang die wenigsten drauf", so der BJJ-Schwarzgut.
Der 35-Jährige agiert nicht nur als Trainer der Kämpfer und Leiter des Gyms. Er ist gleichzeitig Manager und Vermittler, eine Art Herbergsvater: Wer ein Problem hat, 'der geht zu Peter'. Beim Interview in seinem Büro klopft es quasi im Minutentakt an der Tür: Es geht um Bluttests, Verträge oder Pläne zum Gewichtmachen. Sobotta entschuldigt sich kurz: "Eine Woche vor Kampf ist es besonders stressig", um dann kurz darauf einzugestehen, "aber eigentlich ist es immer so." Mit "NFC Balingen" (18. Juni/Sport1) steht eine MMA-Großveranstaltung in der Stadt an. Ein Heimspiel, bei dem gleich sechs Kämpfer des Planet Eater vor Tausenden Zuschauern in den Käfig steigen.
"Balingen bietet Freiheit für den Kopf"
Für den ehemaligen UFC-Kämpfer und sein Team ist die Veranstaltung vor rund 2400 Zuschauern in der Sparkassen Arena die Regel, für die Stadt Balingen eine Ausnahme. Zwar geht der Handball-Bundesligaabsteiger HBW Balingen in der gleichen Halle sonst vor ähnlicher Kulisse auf Torejagd, die MMA-Veranstaltung übersteigt von der Logistik dennoch die Möglichkeiten der Stadt. Der Veranstalter NFC schafft für seine Events immer eine kleine organisatorische Blase und versucht, seine Mitarbeiter, alle Kämpfer und deren Betreuer in einem Hotel unterzubringen. In Balingen ist das nicht möglich, das größte Hotel hat 60 Betten. Stattdessen werden die Beteiligten der Veranstaltung in Stuttgart untergebracht. Für die Jungs vom Planet Eater bleibt es ein Heimspiel, ein Shuttle bringt sie am Kampftag in die Halle.
Wie in vielen ländlichen Regionen geht in Balingen ohne Auto wenig. Bahnanbindung und Busse gibt es, die Taktung lässt etwas zu wünschen übrig. Ein anderes infrastrukturelles Problem trifft die Sportler vom Planet Eater aber tatsächlich härter. Nämlich immer dann, wenn im Gym statt Schweiß und Tränen, wirklich das Blut fließt - oder Schlimmeres. Quasi wöchentlich kommt es zu kleineren Verletzungen wie Prellungen oder Cuts, erklärt Sobotta. Die medizinische Versorgung mit dem städtischen Krankenhaus in Balingen reicht dafür aus, wenn es ernstere Erkrankungen oder Verletzungen sind, fehlt es jedoch an Spezialisten. "Welcher deutsche Facharzt kommt hier aufs Land", klagt Sobotta. Die Nähe zur Schweiz und die guten Verdienstmöglichkeiten im Nachbarland würden noch zusätzlich dafür sorgen, dass immer mehr Ärzte abwandern. Wenn seine Sportler eine spezielle Behandlung brauchen, dann geht es meistens gleich nach Tübingen in die Uniklinik - das ist gut eine Stunde von Balingen entfernt.
Der provinzielle Touch der Region hat auch Vorteile. Die Mieten sind noch einigermaßen bezahlbar und der Fokus liegt voll auf der sportlichen Entwicklung, denn "es gibt wenig Ablenkung hier in Balingen", erklärt Özyildirim, der aus der Region stammt. "Party ist hier nicht. Es gibt einen Club, wenn du da zwei bis dreimal warst, reicht das auch. Hier gibt es sehr viel Natur und Freiheit für den Kopf."
Freiheit ist ein wichtiges Thema, denn besonders in der Woche vor einem Kampf lässt Cheftrainer Sobotta seinen Kämpfern Raum zur Entfaltung. "Die Vorbereitung auf den Gegner ist dann schon abgeschlossen. In den letzten Tagen vor dem Kampf geht es darum, Energie aufzuladen. Was das Training angeht, entscheidet jeder selbst, wie intensiv und in welchem Bereich er arbeitet", erklärte der 35-Jährige. Diese Form der Selbstverantwortung sei wichtig für die Entwicklung und Teil seiner Gym-Philosophie, "schließlich muss sich jeder Kämpfer auch als eigene Firma betrachten - sportlich und charakterlich." Ein Unternehmen generiere sein Wachstum selbst. Er als Trainer könne zwar mit investieren, die Entscheidungen müsse der Kämpfer treffen - und auch mit den Konsequenzen leben.
Entsprechend lässt sich der Weg in die höchsten MMA-Sphären wie die UFC nicht durchplanen, Sobotta will seine Kämpfer stattdessen behutsam aufbauen. In die Zukunft blickt er aber äußerst optimistisch: "In den nächsten fünf bis zehn Jahren werden wir deutlich mehr Kämpfer aus Deutschland in den internationalen Top-Organisationen sehen."
Quelle: ntv.de