Beißen bis zum Moral-Schub Genau diesen "Polen-Moment" brauchte die deutsche Elf
24.06.2024, 00:02 UhrMal kein Hurra-Fußball, dafür kratzen, beißen - und spät zurückkämpfen. Das Remis gegen die Schweiz ist für die deutsche Nationalelf wichtiger als ein einfacher Sieg: Sie erlangt einen Moral-Schub wie im Polen-Spiel bei der WM 2006. Das kann bedeutende Kräfte freisetzen.
Diese DFB-Elf kann auch anders. In den ersten beiden EM-Spielen macht sie Spaß, begeistert. Wirkt reif für den Titel. Dann kommen die Schweizer - auf einmal muss die deutsche Mannschaft ganz andere Tugenden zeigen. Kratzen. Beißen. Dagegenhalten. Am Ende steht ein Remis, das mehr bedeutet als ein deutlicher Erfolg: einen Sieg der Moral. Einen "Polen-Moment" wie bei der WM 2006. Der späte Ausgleich von Niclas Füllkrug setzt Kräfte frei, die das Team bis ins Finale tragen können.
An das 1:0 von Oliver Neuville in der 90. Minute bei der Heim-Weltmeisterschaft vor 18 Jahren erinnert sich wohl jeder Fußballfan in Deutschland, es war der Beginn des Sommermärchens. Nun kommt Einwechselspieler Füllkrug und macht ihn rein gegen Schweiz per Kopf nach Flanke von Einwechselspieler David Raum. In der 92. Minute. Die komplette Mannschaft flippt aus, auf dem Feld wie auf der Seitenlinie. Kollektiver Jubel. Solch ein später Treffer von zwei Bank-Spielern beflügelt. Schweißt zusammen. Schafft Glauben. Für knifflige Momente, die im Verlauf des Turniers kommen werden.
Denn nun warten ganz andere Kaliber, es wird noch ein steiniger Weg. Die Gegner im Achtelfinale am kommenden Samstag in Dortmund (21 Uhr) sind möglicherweise die rätselhaften Engländer und in einem Viertelfinale würden wohl die starken Spanier oder die abgezockten Titelverteidiger aus Italien warten. Dass einiges gegen die Schweiz nicht funktioniert hat, in der Defensive und im Angriff, ist ein wichtiger Wachrüttler vor den K.o.-Spielen. Aber dafür hat die deutsche Mannschaft eine bedeutende Erkenntnis erlangt: Sie wird von nichts so einfach aus der Bahn geworfen. Sie besitzt eine enorme Widerstandsfähigkeit. Sie kämpft bis zur letzten Sekunde. Ohne diese feste Überzeugung gewinnt man keine EM.
"Das kann viel freisetzen", betont Kapitän İlkay Gündoğan nach dem Spiel. "Im Nachhinein wird das mit Sicherheit ein Knackpunkt-Spiel gewesen sein", sagt Torschütze Füllkrug. Und Anführer Toni Kroos meint: "Wir haben zum wiederholten Mal gezeigt, dass wir mit einem Rückstand umgehen können, dass wir an uns glauben bis zu Ende. Das hilft der Mannschaft."
DFB-Elf erkämpft sich Moral-Schub
Tore: 1:0 Ndoye (28.), 1:1 Füllkrug (90.+2)
Schweiz: Sommer - Schär, Akanji, Rodriguez - Widmer, Freuler, Xhaka, Aebischer - Rieder (65. Vargas) - Ndoye (65. Amdouni), Embolo (65. Duah) - Trainer: Yakin
Deutschland: Neuer - Kimmich, Tah (61. Schlotterbeck), Rüdiger, Mittelstädt (61. Raum) - Andrich (65. Beier), Kroos - Musiala (76. Füllkrug), Gündoğan, Wirtz (76. Sané), - Havertz - Trainer: Nagelsmann
Schiedsricher: Daniele Orsato (Italien)
Gelbe Karten: Ndoye, Xhaka, Widmer (2) - Tah (2)
Zuschauer: 47.000 (ausverkauft) in Frankfurt
Den ersten richtigen Stresstest hat Deutschland bestanden. Und auch so kann man die Menschen im Land begeistern, es muss nicht immer ein 5:1 sein. Ein spätes Tor, ein erkämpftes Remis machen schlichtweg Bock und begeistern die Massen ebenfalls. Tausende Fans feiern vor dem Spiel ausgelassen auf den Straßen und Fan-Partys von Berlin bis Stuttgart, nach der Partie gibt es Autokorso. Das hat es lange nicht mehr gegeben, das allein ist schon ein Erfolg. Schließlich hatten die miserablen Turniere in Russland und Katar einen Keil zwischen Mannschaft und Anhänger getrieben. Alle Versuche, den wieder rauszuholen waren gescheitert, am Ende kostete es den wild experimentierenden Bundestrainer Hansi Flick den Job.
Auf ihn folgte Nagelsmann, der ähnlich experimentell und erfolglos gestartet war. Doch in seinen erst zehn Länderspielen hat er etwas geschafft, was dem 36-Jährigen vorher wohl nicht viele zugetraut hätten: Nagelsmann formte aus dem Trümmerhaufen, den die vorherigen Turniere hinterlassen haben, ein Gebilde, das zu funktionieren scheint. Die März-Länderspiele waren dafür der Neuanfang. Die EM-Gruppenphase ist der Beginn einer möglicherweise frühen Krönung seiner Bundestrainerkarriere.
Mal nicht erfolgreich mit der Spielfreude, dafür mit der Widerstandsfähigkeit und den vielen durchschlagkräftigen Alternativen auf der Bank: Das ist ein Pfund, damit wird die DFB-Elf auch schwieriger ausrechenbar für kommende Gegner.
Eine sehr gute Basis ist gelegt. Der EM-Plan von Bundestrainer Nagelsmann funktioniert, das Land trägt die DFB-Elf und andersherum genauso. Warum nicht bis ins Finale in Berlin? Diese deutsche Mannschaft ist reif dafür - und den wichtigen Moral-Schub hat sie sich nun erkämpft.
Quelle: ntv.de