Fußball-WM

Messi & Co. singen sich warm Argentinien erteilt DFB-Weisen Rummenigge eine Lektion

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Julián Álvarez trifft zum 2:0. Borna Sosa vom VfB Stuttgart liegt platt auf der Erde.

(Foto: IMAGO/Shutterstock)

Gerade erst als einer der neuen DFB-Retter vorgestellt, reist Karl-Heinz Rummenigge zur WM nach Katar. Er sieht eine Lektion in Sachen Fußball. Argentinien schlägt Kroatien mit 3:0 und singt sich warm für den dritten Titel. Nicht nur Lionel Messi ist begeistert.

Vielleicht ist es auch einfach dieses Lied: "Muchachos". Sie singen es immer und immer lauter und mit immer größerer Gewissheit. Sie singen es in der Umkleidekabine des Lusails, sie singen es unter den goldbeleuchten Rändern des Stadions und in den Straßen von Buenos Aires. "In Argentinien bin ich geboren. Die Erde von Diego und Lionel." Mehr braucht es nicht. Dann ist alles geklärt. Das hier ist die Erde von Diego und Lionel. Zwei Jahrhundertfußballer, die zerbrechliches Glück über ihr Land bringen.

Was für ein Team! Argentinien schert sich nicht um die "Vorboten des Untergangs", denen sie am 22. November im Lusail Iconic Stadium beim 1:2 gegen Saudi-Arabien begegnet sind. Unbeirrt von der historischen Niederlage nach 36 ungeschlagenen Spielen in Folge ziehen sie seither bei der WM ihre Kreise, selten spektakulär, häufig magisch und wenn es eben die Verhältnisse erforderten auch dreckig. Sie spielen so, wie es die deutsche Mannschaft vor langen Jahren einmal spielte. Und dazu gibt es eine Prise Messi.

Wie 1990, damals verloren sie gegen Roger Millas Kamerun, ziehen sie nach einer Demütigung zum Auftakt des Turniers ins Finale ein. Anders als 1990 können sie am Sonntag mit ihrer besten Elf spielen. Anders als 1990 wartet dort mit Sicherheit auch nicht der Erzfeind Deutschland. Der ist längst abgereist und bricht sich jetzt im winterlichen Deutschland die Beine.

Das Ende des Fluchs

Mit einem 3:0 (2:0) gegen Kroatien steht Argentinien als erster Finalteilnehmer fest. Der alte König des Fußballs, Lionel Messi, wartet auf seinen Nachfolger, auf Kylian Mbappé. Und wenn der nicht kommt, dann steht eben nur noch Marokko zwischen ihm und dem Schritt in die Ewigkeit. Zwischen ihm und dem Schritt heraus aus dem überlebensgroßen Schatten des Diego Maradona, der 1986 den letzten WM-Pokal mit zurück nach Buenos Aires brachte.

Seither sind 36 lange Jahre, zwei Finalteilnahmen und etliche entscheidende Niederlagen gegen Deutschland vergangen - 1990 im Finale in Rom, 2006 in Berlin, 2010 in Kapstadt und 2014 im Maracaná im Rio. Immer waren die Deutschen da und zerstörten den Traum. Die Sehnsucht nach dem dritten Triumph ist unendlich, der Titel jetzt greifbar nah. Sie werden ihn holen. Sie sind sicher. Sie singen schon die ganze Zeit davon. Messi ist auf der letzten Runde. Dann wird er nur noch eine Ikone sein. Und keiner mehr, der Spiele malt und der sich erst bei der Copa 2021 seinen ersten Titel mit Argentinien holte. Für die Albiceleste ist es der erste Titel seit der Copa 1993. Es ist das Ende eines Fluchs.

"Die Finals, die wir verloren haben. Wie viele Jahre habe ich sie beweint. Aber das ist vorbei, da wir im Maracaná im Finale gegen die Brasilianer wieder gewonnen haben", singen die Fans der Himmelblauen. Immer lauter und jetzt wedeln sie mit der rechten Hand, jetzt klopfen sie mit ihren Schuhen auf Mülltonnen und jetzt hängen sie auf den Laternen der argentinischen Hauptstadt.

Von Argentinien in die Welt

Sie singen, weil Kroatien im WM-Halbfinale in die Falle läuft. "Wir wissen, wie wir leiden müssen, wenn wir leiden müssen und wir haben den Ball, wenn wir ihn haben müssen", sagt Lionel Messi als er einmal nicht singt oder die Auszeichnung für den besten Spieler des Abends präsentieren darf. "Es war heute nicht einfach. Wir waren müde, aber die Mannschaft ist zurückgekommen und hat Ernst gemacht."

Die Mannschaft um Messi, der mit seinem als Vorarbeit getarnten Gemälde zum 3:0 Maradonas 86er-Sololauf gegen England vergessen ließ, stellt diese Falle. In den ersten 22 Minuten spielt Kroatien und Argentinien erholt sich. Sie haben den Ball und immer wieder treibt Mateo Kovacic ihn durch die Mitte, bis es Leandro Paredes zu bunt wird. Er grätscht und ohne Kovacic wirklich zu berühren, nimmt er ihn aus dem Spiel und die Partie dreht sich. Die Falle schnappt zu. Erst trifft Messi per Elfmeter und dann Julián Álvarez, nur Sekunden nach einer Ecke für Kroatien.

Mit 22 zieht Álvarez, den sie nur La Araña, die Spinne, nennen, in diesem Jahr von River Plate aus in die Welt. Er landet bei Manchester City, sein Teamkollege Enzo Fernández bei Benfica Lissabon und im kommenden Sommer womöglich ebenfalls in England. Jürgen Klopp soll interessiert sein.

Was nicht verwundert: Der 21-jährige Fernández ist eine der großen Überraschungen der WM, steht aber im Lusail diesmal im Schatten von Álvarez, der sich beim 2:0 irgendwie mit dem Ball bis zum Tor rettet. Mehrfach prallt die Kugel an einem Kroaten ab und wieder zu ihm, dann liegt Gegenspieler Borna Sosa geschlagen auf dem Boden und die Spinne schubst den Ball durch die Beine des Keepers Dominik Livakovic.

Die Albiceleste ist eben nicht nur Messi. Sie ist Álvarez, Fernández, Nicolas Otamendi, Paredes, Rodrigo De Paul und Nicolas Taglificao, der sich seinem Grätschenrausch hingibt. Sie ist auch Lautaro Martinez, der im Turnier nichts trifft, aber gegen die Niederlande den entscheidenden Elfmeter versenkt. Sie ist dreckig, abwartend, lauernd und manchmal, nach einem Gegentor, auch panisch. Aber das ist gegen Kroatien kein Problem. Sie ist auch Alexis Mac Allister, der noch im Januar Brighton & Hove verlassen will, der bei der WM ein Spieler von Weltruf wird.

Deutschland bleibt unter sich

"Jorge Valdano, ein Philosoph des Fußballs, sagte einmal, jeder Fußballer muss sich eine kleine Quote kriminellen Instinkts bewahren", erzählt sein Vater, Carlos Mac Allister, ein ehemaliger argentinischer Nationalspieler neben Diego, neulich im Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung". Er trifft damit nicht nur einen Kern des argentinischen Spiels, sondern er trifft damit auch direkt in das ohnehin malade Herz des deutschen Fußballs. Anschauungsunterricht für Karl-Heinz Rummenigge, der sich das Spiel im Lusail anschaut und seine Erkenntnisse direkt an den neuen Rat der DFB-Weisen weitergeben kann.

Denn letztendlich ist das deutsche Ausscheiden aus dem Turnier auf eben das zurückzuführen, auf das Fehlen eines kriminellen Instinkts in der DFB-Elf. Der ist den meisten Spielern der deutschen Elf über die Jahre abhandengekommen. Er hat sich nach dem WM-Triumph 2014 ausgeschlichen und ist in Selbstzufriedenheit übergangen. Weil die, die von Borussia Dortmund zum DFB stoßen, Jahr für Jahr mehr Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit einbringen und noch viel mehr natürlich, weil die, die vom FC Bayern München keine Widerstände mehr gewohnt sind. Ihnen gehört die Welt.

Jahr für Jahr räumen die Bayern in der Liga den Titel ab und setzen alles auf die Champions League. Das klappt bis auf das Pandemieturnier, als die Welt sich schüttelt, und deutsche Effizienz belohnt wird, nicht. Die beiden großen Klubs des deutschen Fußballs sind seit Jahren auf ihre Art erkrankt, nicht nur die Liga leidet. Wie die vergangenen drei Turniere allesamt zeigen.

Anders als Frankreich, die andere große Fußball-Nation mit kranker Liga, zieht es aus Deutschland kaum Top-Spieler ins Ausland. Sie kommen nach Dortmund, um ihre Karriere zu begraben und sie gehen zu den Bayern, um Meister zu werden. Sie kommen nach Leipzig, um am "spannendsten Projekt" der Liga teilzuhaben und sie gehen zu anderen Bundesligisten, um diese Türen zu öffnen. Und alle sind gefangen in der Bundesliga. Nur ein paar brechen aus. Und kommen danach nie richtig in der DFB-Elf an. Sie sind die Fremdkörper im sich selbst genügenden System.

Diego sieht aus dem Himmel zu

Im Lusail geht das Spiel in die letzten Minuten. Kroatien gibt sich irgendwann auf. Nicht an diesem Abend. Die Argentinier sind effizienter, unbarmherziger und in wenigen Momenten auch hinreißender als die Brasilianer, die der kroatischen Defensive kaum Schaden zufügen konnte und längst zurück in Rio sind. Der große Luka Modrić wird verabschiedet. Er hat Kroatien geprägt, sie zweimal unter die Top 4 der Welt geführt und 2018 sogar den Titel als Weltfußballer des Jahres gewonnen. Er geht unter lautem Applaus. Dieses Argentinien ist zu stark für Kroatien. Die erste WM ohne den vor zwei Jahren verstorbenen Diego Maradona soll ihre sein. Und Diego ist noch da, auf den Bannern im Stadion und im Herzen des Landes.

"Muchachos. Jetzt haben wir wieder Hoffnung. Ich will den dritten Titel gewinnen. Ich will Weltmeister sein. Diego sehen wir im Firmament, wie er von dort mit (Diegos Eltern) Lionel anfeuert", singen sie und stehen noch Stunden danach vor dem Stadion und ziehen noch Stunden danach zum Plaza de Mayo. Es ist ihre Nacht und sie stehen gerade erst im Finale. "In Argentinien bin ich geboren. Die Erde von Lionel und Diego". Noch ein Spiel, dann wird 2022 wie 1986 sein. Alles Gute vergeht, aber alles Gute kommt wieder. Vielleicht ist es nur dieses Lied.

Quelle: ntv.de

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