Fußball

Zaubernde "Jahrhunderttalente" Die unerwartete DFB-Aufgabe von Toni Kroos

"Wir müssen sie dahin bringen, dass sie den Fußball spielen, den sie in den Beinen haben", sagt Kroos über Wirtz und Musiala.

"Wir müssen sie dahin bringen, dass sie den Fußball spielen, den sie in den Beinen haben", sagt Kroos über Wirtz und Musiala.

(Foto: picture alliance/dpa)

Es sind keine 90 Tage mehr bis zum Start der Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land. Langsam kristallisiert sich heraus, wie Bundestrainer Julian Nagelsmann spielen lassen will. Eine besondere Rolle könnte auf Rückkehrer Toni Kroos zukommen, für ihn geht es auch um zwei Jahrhunderttalente.

Es ist nicht so, als hätte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nicht genügend Aufgaben. Die DFB-Elf und die Europameisterschaft im eigenen Land haben gemeinsam eine To-do-Liste, die weit über das Sportliche hinausgeht: den Geist der vergangenen drei Krisen-Turniere abschütteln, mindestens die K.-o.-Runde erreichen, Euphorie im ganzen Land entfachen, ein Sommermärchen 2.0 schreiben, die Menschen wieder zusammenbringen, die Demokratie retten, den gesamten Kontinent versöhnen.

Doch, wie es im Leben so ist, müssen vor den großen erst die kleinen Aufgaben erledigt werden. Davon gibt es auch genügend: Denn die meisten der dann 23 Nationalspieler haben für die EM ihre ganz persönlichen Anforderungen - vor allem, wenn es um die Arbeit auf dem Platz geht. Bundestrainer Julian Nagelsmann machte unlängst klar, dass er feste Rollen im Kopf hat, die von den handelnden Akteuren erfüllt werden müssen.

Einer davon ist Toni Kroos. Nach mehr als 1000 Tagen wird der 34-Jährige am Samstag gegen Frankreich (21 Uhr/ZDF und im ntv.de-Liveticker) erstmals wieder für die Fußball-Nationalmannschaft auflaufen. Im Anschluss an die EM 2021 war er zurückgetreten, nachdem die Krise der Nationalelf auch an ihm gehaftet hatte. Doch für die Heim-EM ist Kroos zurück. Er soll das DFB-Orchester ähnlich präzise dirigieren, wie er das nun seit fast einem Jahrzehnt bei dem königlichen Ensemble von Real Madrid macht.

Wieder "typisch deutsch" werden

Das Ziel sei es, wieder "typisch deutsch" zu werden, scherzte Kroos am Dienstag zunächst und meinte das dann doch ernst. Früher, erklärte er weiter, "war das mal, wenn man erfolgreich war". Und führte weiter aus: "Da wollen wir wieder hinkommen!" Denn nach den verkorksten Turnieren in Katar 2022, in Russland 2018, der Europameisterschaft 2021 und dem erfolglosen Länderspieljahr 2023 war zuletzt vor allem von Demut die Rede, weniger von Aufbruchsstimmung.

Es bleibt jedoch die Frage: Nur wie wieder erfolgreich werden? Das ist die größte Aufgabe des DFB-Teams. Bundestrainer Julian Nagelsmann deutete das schon bei der Kaderbekanntgabe in der vergangenen Woche an: ein radikal umgebautes Aufgebot, das mit klaren Rollenverteilungen funktionieren soll. Auf einen wartet dabei, mehr als nur Dirigent zu sein: Kroos selbst definierte seine Aufgabe nicht nur damit, das Spiel des DFB-Teams mit millimetergenauen Pässen zu lenken, sondern weit darüber hinaus.

Bislang eher unerwartet: Kroos soll auch zum Bühnenbauer werden, damit andere strahlen können - nämlich die beiden großen Hoffnungen des deutschen Fußballs derzeit: Jamal Musiala und Florian Wirtz. "Genau diese Jungs wollen wir in Position bringen, und darin liegt logischerweise meine Aufgabe", sagte Kroos. Sie sollen nicht von irgendwelchen gegnerischen Defensivspielern einfach zugestellt werden. "Wir müssen sie dahin bringen, dass sie den Fußball spielen, den sie in den Beinen haben", erklärte der 34-Jährige. "Sie sollen uns allen Spaß machen und nicht untergehen."

Wer die Bundesliga aufmerksam verfolgt (Kroos übrigens nach eigener Aussage nicht), weiß, was er meint. Musiala und Wirtz, 21 und 20 Jahre alt, sind schon längst keine Geheimtipps mehr, sondern das Spannendste, was der deutsche Fußball aktuell zu bieten hat. Für sie scheinen keine Regeln zu gelten, sie zaubern in ihrer eigenen Welt. Der eine, Musiala, fällt beim FC Bayern nach einigen schwachen Monaten wieder durch schlangenartige, wundersame Dribblings auf. Für seine Gegner ist er kaum zu fassen, so wuselig, quirlig und wendig ist er unterwegs. Der andere, Wirtz, hat bei der Sensationsmannschaft Bayer Leverkusen ein Gespür für den noch so kleinsten Raum entwickelt, wie es nur ganz wenige derzeit haben. Nach seinem Kreuzbandriss vor zwei Jahren scheint er zudem nochmals zugelegt zu haben.

Wohin mit den "Jahrhunderttalenten"?

Doch es ist nicht nur die Mission von Toni Kroos, den beiden Künstlern eine Bühne zu bauen. Vielmehr ist es eine Aufgabe für die gesamte Nationalelf und Bundestrainer Nagelsmann. Denn das Mittelfeld wird zum Herzstück des radikal umgebauten DFB-Teams. Die Zeichen deuten mittlerweile darauf hin, wie das funktionieren soll: Vorne glänzen Wirtz und Musiala, dahinter Kroos und zwei weitere DFB-Stars. Kroos erklärte, dass die Zentrale "alle Facetten mitbringen" sollte. Ein verschiedener Mix aller Qualitäten, eben so, wie er es seit Jahren von Real kennt.

In der Praxis heißt das: Neben Kroos, dem Bindeglied zwischen Defensive und Offensive, braucht es jeweils noch einen Vertreter der beiden Extremen. Auf der offensiven Zehnerposition ist İlkay Gündoğan als Kapitän mutmaßlich gesetzt. Für ihn gibt es auch eine ganz persönliche Mission: Jahrelang war er eine tragende Stütze bei Man City, im DFB-Team hat bisher kein Bundestrainer die passende Rolle für ihn gefunden. Weil Kroos und Gündoğan defensiv jedoch anfällig sind, brauchen sie Verstärkung. Als Arbeiter könnten das entweder Leverkusens Robert Andrich oder Brightons Pascal Groß sein.

Damit bleibt für den Bundestrainer vor allem eine entscheidende Frage: Wo stellt er Wirtz und Musiala auf? Und wie? Und wer soll drumherum spielen? Die beiden "Jahrhunderttalente", wie Rekordnationalspieler Lothar Matthäus sie taufte, spielten in ihrer gesamten Karriere erst 270 Minuten zusammen. Das Überraschende daran ist, dass es vor allem Bundestrainer Nagelsmann war, der die Kombi auf der USA-Reise gleich zweimal ausprobiert hatte.

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Die Frage ist: Sollen sie gemeinsam spielen? Nagelsmann sieht in seinem System offensiv nur drei sogenannte Zehnerpositionen, mit Gündoğan ist eine schon besetzt. Das hieße, die restlichen beiden wären für Wirtz und Musiala reserviert. Doch: Beide fühlen sich eher an den Sechzehnerkanten daheim, weniger an den Außenlinien wie klassische Flügelspieler. Geht damit nicht Breite verloren?

Diese Fragen werden wohl die kommenden beiden Länderspiele gegen Frankreich und die Niederlande beantworten. Und eine Sache erleichtert Nagelsmann das Puzzeln maßgeblich: Flügelstürmer Leroy Sané fehlt nach seiner Roten Karte im Testspiel gegen Österreich gesperrt. Damit hat der Bundestrainer mehr Raum zum Ausprobieren. Denn die richtigen Rollen zu finden, das ist wohl seine wichtigste Aufgabe.

Quelle: ntv.de

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