In der "Nacht der Wunder" Höchster Sieg aller Zeiten: San Marino knackt Rekord um Rekord
19.11.2024, 05:42 Uhr
Über 100 Spiele hat die Fußball-Nationalmannschaft von San Marino auf einen Auswärtssieg gewartet. In Liechtenstein klappt es endlich. San Marino erlebt die "Nacht der Wunder" und darf jetzt sogar von der Teilnahme an den WM-Playoffs träumen.
Die "Nacht der Wunder", die lokale Medien ausgerufen hatten, ist Wirklichkeit geworden. Dieser Montagabend in Vaduz, der Hauptstadt von Liechtenstein, ist ein Tag für die Fußball-Geschichtsbücher: Das Nationalteam von San Marino gewinnt das Nations-League-Spiel im Fürstentum mit 3:1 und steigt sensationell in die nächsthöhere Liga auf. Aber das ist nur eines von mehreren Wundern an diesem historischen Fußball-Abend. San Marino "bricht auf einen Schlag eine Lawine an Rekorden", frohlockt das Staatsfernsehen im fünftkleinsten Land der Welt.
Der 3:1-Sieg nach 0:1-Rückstand in Liechtenstein ist für San Marino nämlich noch viel mehr wert als "nur" drei Punkte und den damit verbundenen Aufstieg. Die "Titanen", wie die Mannschaft aus dem Zwergstaat genannt wird, haben in mehrerlei Hinsicht Geschichte geschrieben: San Marino gewinnt zum ersten Mal in 34 Jahren im insgesamt 101. Versuch der Länderspiel-Geschichte ein Auswärtsspiel. San Marino erzielt zum ersten Mal überhaupt drei Tore in einem Spiel. San Marino gewinnt zum ersten Mal nach Rückstand. San Marino feiert den "höchsten" Sieg aller Zeiten.
Es ist ohnehin erst der dritte Sieg im 211. Spiel für das Team von Nationaltrainer Roberto Cevoli. Die beiden Siege zuvor gab es auch gegen Liechtenstein: 2004 in einem Freundschaftsspiel und im Oktober dieses Jahres im Nations-League-Hinspiel, 20 Jahre nach dem Premieren-Erfolg. Nur zwei Monate und bloß vier sieglose Spiele später gewinnt San Marino nun erneut gegen Liechtenstein. Und wie.
San Marino klar überlegen
Von Beginn an treten die Gäste selbstbewusst auf. Die Anfangsphase gehört eindeutig San Marino. Nur das Führungstor fehlt. Auf den letzten Metern Richtung Tor wird deutlich, dass die meisten Spieler bestenfalls Halbprofis sind.
Besser macht es auf der anderen Seite Aron Sele. Ein Tor so ansatzlos, dass es als Definition für die Floskel "aus dem Nichts" herhalten könnte. Liechtensteins Mittelfeldmann fackelt etwa 25 Meter vor dem Tor nicht lang, reißt mit dem wunderschönen Tor die 1157 Zuschauer aus ihren Sitzen und hievt San Marino in diesem Moment auf den letzten Tabellenplatz in der untersten Liga der Nations League. Ein Traumtor, das dem Spielverlauf im Rheinpark-Stadion von Vaduz in keinster Weise gerecht wird.
Ein Traumtor, das den Spielverlauf aber auch nicht in die andere Richtung lenkt. Direkt nach Anpfiff der zweiten Halbzeit reicht stattdessen ein hoher Pass der Gäste, um die gesamte liechtensteinische Abwehr auszuhebeln. Lorenzo Lazzari nutzt das Zuspiel zum Ausgleich. Liechtenstein bekommt danach weiterhin keine Struktur ins Spiel und kassiert Mitte des zweiten Durchgangs den nächsten Nackenschlag. Nicola Nanni wird nach einem Eckball zu Boden gerissen. Den fälligen Elfmeter nutzt der Stürmer souverän zum Führungstreffer. Mit seinem dritten Länderspieltor ist Nanni bereits der zweiterfolgreichste Torschütze in der san-marinesischen Geschichte.
Von den Hausherren ist nach dem Rückstand weiter nichts zu sehen, stattdessen spielt nur San Marino. Einen stark vorgetragenen Angriff vollendet Alessandro Golinucci zum 3:1. Die Entscheidung. Von hier an gibt es im san-marinesischen Fanblock kein Halten mehr.
"DREI TORE IN EINEM SPIEL. LOL"
Nachdem der Schlusspfiff ertönt, holen sich die "Titanen" den verdienten, tosenden Applaus der etwa 50 san-marinesischen Fans ab. Erfolgstrainer Cevoli wird von seinen Schützlingen mehrfach in die Luft geworfen. Der bekannte "San Marino fan account" auf X befindet sich unterdessen längst im Delirium. Sämtliche Tweets werden in Versalien verfasst. "DREI TORE IN EINEM SPIEL. SAN MARINO HAT DREI TORE IN EINEM SPIEL ERZIELT. LOL."
Ähnlich übermannt von ihren Gefühlen sind die San-Marino-Fans im Vaduzer Stadion. Den ganzen Abend über sind sie akustisch genauso überlegen wie ihre Helden auf dem Platz. Angetrieben von einer Art Vorsänger, der entweder unentwegt auf einer winzigen Kinder-Trommel die Stimmung vorgibt oder ein ebenso winziges Megafon zur Hilfe nimmt.
Auffällig ist, dass sich viele Fans von San Marino auf Englisch anschreien. Wer voller Ver- und Bewunderung denkt, immerhin etwa 50 San-Marinesen würden ihrer Nationalmannschaft hinterher reisen, sieht sich getäuscht. Viele Anhänger der eigentlich erfolglosen "Titanen" sind Groundhopper - Menschen, meist Männer, die massenhaft Fußballspiele überall auf der Welt besuchen. Oder es sind Männer, die sich über Jahre hinweg, auch ohne san-marinesischen Pass oder besondere Beziehungen in die älteste Republik der Welt, bewusst dem erfolglosesten Team von allen regelrecht verschrieben haben. Die meisten scheinen aus dem Mutterland des Fußballs zu kommen. Die Freude über den historischen Erfolg vereint alle miteinander. San-marinesische Schlachtenbummler mit britischen Gelegenheits-Fans. Ein Moment für die Ewigkeit.
Auch Liechtenstein hatte "historische Chance"
Weniger zu lachen haben naturgemäß die Anhänger der Fürstentum-Fußballer. Nach dem 1:0-Testspielsieg gegen Hongkong im Oktober, dem ersten Erfolg nach vier Jahren Sieglosigkeit, hatte sich Liechtenstein einiges ausgerechnet im letzten Länderspiel des Jahres. Mit einem Sieg hätte sich das vom deutschen Coach Konrad Fünfstück trainierte Team noch auf Platz 2 in Gruppe D1 der Nations League schieben können. Vorbei an San Marino, einen Punkt hinter Gibraltar, das ohne den historischen Sieg der "Titanen" die Gruppe gewonnen hätte. Die Kicker vom Affenfelsen müssen sich nun über den Umweg Relegation am Aufstieg in die höhere Liga versuchen.
In dieser Ausscheidungsrunde wäre auch Liechtenstein gerne gelandet. "Eine historische Chance für unser Team", hatte der Stadionsprecher unmittelbar vor Anpfiff gesagt. Eine Chance, die das Fünfstück-Team nicht bekommen wird.
Liechtenstein-Liebe aus England
Das dürfte überraschend sogar einen der vielen Engländer im Stadion gewurmt haben. Beim Nations-League-Showdown hält sich an diesem Abend nämlich auch ein Brite auf, der anders als seine Landsleute nicht San Marino, sondern Liechtenstein die Daumen drückt.
Gary, 44, ist ein Fußball-Fan der skurrilen Sorte. Sein Herzensklub in England ist Premier-League-Verein Brighton Hove & Albion. Ebenso viele Sympathien hat Gary aber für Bayer Leverkusen. "Wir haben sogar einen Fanclub in Großbritannien und reisen zusammen manchmal nach Deutschland, um uns Spiele anzugucken", berichtet Gary. So weit, so skurril. Was Gary aber endgültig von allen anderen Fußballfans und Groundhoppern unterscheidet, ist seine große Leidenschaft für Liechtenstein.
2003 spielt die englische Nationalmannschaft in der Qualifikation zur Europameisterschaft gegen das Fürstentum. Gary schaut die Partie im TV und beginnt, sich für das unbekannte wie winzige Fleckchen Erde, umrahmt von der Schweiz und Österreich, zu interessieren. 2005 reist er erstmals nach Liechtenstein. "Das war ein 0:0 gegen die Slowakei", erinnert er sich. Auch auswärts hat Gary seine Liechtenstein-Liebe aufflammen lassen, bei Auswärtsspielen in Wales, Nordirland und Schweden.
San Marino? Nicht mehr das "Synonym für Niederlagen"
An diesem November-Abend dann mal wieder ein Heimspiel-Besuch. Mal wieder ohne Erfolg für seine Liechtensteiner. Erfolglos gegen das erfolgloseste Team der Welt. Für Gary ist das trotzdem kein Grund, die eigene Liebe infrage zu stellen. "Viele Jahre lang habe ich mein Geld nur noch für Brighton, Leverkusen und meinen lokalen Klub Runcorn Town ausgegeben. Durch die Einführung der Nations League ist das Interesse an Liechtenstein aber wieder deutlich gestiegen. Kleine Länder haben endlich die Chance, Spiele zu gewinnen."
Diesen Satz werden nach der "Nacht der Wunder" von Vaduz vor allem die Anhänger und Spieler von San Marino unterschreiben. Das Staatsfernsehen stellt zufrieden fest: "San Marino war ein Synonym für Niederlagen, in diesem Jahr hat San Marino sieben Tore erzielt, zwei Spiele gewonnen und einen Aufstieg gefeiert."
Hoffnung auf WM-Quali-Playoffs
Was soll da noch kommen? Vielleicht die Teilnahme an den Playoffs zur Weltmeisterschaft 2026 in den USA, Kanada und Mexiko. Spinnt der Autor? Hat er sich von der "Nacht der Wunder" in einen gefährlichen Sog ziehen lassen? Nein, die Qualifikations-Kriterien machen das nächste Fußball-Wunder des Zwergstaates tatsächlich möglich.
In der Quali, die von März bis November 2025 gespielt wird, werden die 54 europäischen Nationalmannschaften in 12 Gruppen a vier oder fünf Mannschaften gelost. Die 12 Gruppensieger qualifizieren sich direkt für die WM in den USA, Kanada und Mexiko. Die zwölf Zweitplatzierten schaffen es in die Playoffs. Außerdem erhalten die vier besten Gruppensieger der Nations League, die in ihrer WM-Quali-Gruppe keinen der ersten beiden Plätze belegen, ebenfalls einen Platz in den Playoffs. Und da wird es für San Marino interessant.
Zum Zug kommen zwar zunächst die Nations-League-Gruppensieger aus den Ligen A, B, C und erst danach wäre Liga D an der Reihe. Sind die vier Plätze aber noch nicht verteilt, weil sich genügend Nations-League-Gruppensieger über den regulären Quali-Weg direkt zur Endrunde oder in die Playoffs spielen (was realistisch ist), könnte es auch San Marino in die WM-Playoffs schaffen und die "Nacht der Wunder" ihre Fortsetzung finden.
Quelle: ntv.de