Paris feiert weinenden Giganten Wie einst Thomas Gottschalk: Timo Boll überzieht gnadenlos
07.08.2024, 09:55 Uhr
Timo Boll bei seinem letzten Olympia-Auftritt.
(Foto: Marijan Murat/dpa)
Die nächste große Sportkarriere geht zu Ende - zumindest international: Tischtennis-Legende Timo Boll tritt im Alter von 43 Jahren ab. Im olympischen Teamwettbewerb lässt er seine alte Klasse noch ab und an mal aufblitzen, aber für ganz oben reicht es nicht mehr.
Timo Boll und Thomas Gottschalk haben eine Sache gemeinsam. An geplante Zeiten halten sie sich nicht. Einst wurde die ZDF-Einblendung während "Wetten dass …?" legendär, dass der Showmaster mal wieder ein wenig länger brauche. Gottschalk quasselte wie ein Weltmeister und überzog ständig. Die nachfolgenden Sendungen verschoben sich um mehrere Minuten. Über die Dauer seiner Karriere um 64 Stunden. Boll kann darüber nur müde lachen. Er überzog um Jahre, um über ein Jahrzehnt! Nun habe beide fertig und der Tischtennisstar ist im Pantheon der deutschen Sportgötter angekommen, neben dem Basketball-Riesen Dirk Nowitzki, neben Tennis-Legende Boris Becker, neben Formel-1-Ikone Michael Schumacher und wie sie sonst alle heißen.
Ursprünglich, so bekannte der Kellen-Champion am späten Dienstagabend nach seinem letzten internationalen Spiel, hatte er lediglich bis Ende 20 spielen und dann eine Banklehre machen wollen. Diesen Plan hatte er längst verworfen. Boll ist mittlerweile 43 (!) Jahre alt und immer noch ein ganz Großer an der Kelle. Aber nicht mehr der Gigant, der er über Jahre hinweg war, der ihn zur großen Gefahr des chinesischen Tischtennisimperiums machte. Mehrfach führte er die Weltrangliste an, einzig Weltmeister und Olympiasieger wurde er nicht. Zweimal Einzel-Bronze bei WM's stehen in seiner Vita, fünfmal Silber und einmal Bronze mit dem Team. Dazu achtmal EM-Gold alleine, sieben Mal mit dem Team und so weiter und so weiter. Er ist damit kontinentaler Rekord-Champion.
Auch bei den Olympischen Spielen ist er hochdekoriert, nicht als Solist an der Platte, dafür aber mit dem Team. Zweimal Silber (2008 und 2021) und zweimal Bronze (2012 und 2016) hat er gewonnen. Und allzu gerne hätte er dieser Liste noch ein letztes Edelmetall hinzugefügt. Doch dieser Traum des perfekten Abschlusses platzte gegen die bärenstarken Schweden um Kristian Karlsson, Einzel-Silbermedaillengewinner Truls Möregardh und Anton Källberg, der Boll im entscheidenden Einzel mit 3:1 bezwang. "Es hat Gründe, warum ich gesagt habe, nach Olympia ist Schluss. Es wird für mich immer schwerer auf diesem hohen Niveau zu spielen. Heute habe ich es wieder nicht ganz gepackt", sagte er in der ARD.
China trainierte einst sogar Boll-Klone
In vielen Momenten kann der 43-Jährige noch immer in der absoluten Weltspitze mithalten. Doch die Peitsche knallt nur noch selten, die Vorhand schießt kaum noch hervor. Die Konstanz ist ihm abhandengekommen. So auch am späten Dienstag. Nachdem er die ersten beiden Durchgänge knapp verloren hatte, stemmte er sich noch einmal beeindruckend gegen die drohende Niederlage. Er kramte ein allerletztes Mal das "Odenwälder Kampfschwein" (diesen Spitznamen verpasste ihm einst sein Freund Dirk Nowitzki) in sich hervor. Boll agierte aggressiv, mutig, gewann lange Ralleys durch eigene Kraft und nicht durch Fehler seines Gegners. Eine 0:3-Pleite wäre der Karriere der Legende auch unwürdig gewesen. Er hat diesen Sport geprägt wie wenige andere. Er hat die chinesische Dynastie aufgemischt, sodass diese Klone des Deutschen trainierten, die das kaum zu lesende und stets sehr variable Spiel des "Eindringlings" imitieren sollten. Kaum zu fassen: Auch im Reich der Mitte fand Boll viele Fans, genoss großen Respekt. Bei seinem letzten Auftritt dort jubelten ihm in diesem Jahr über 10.000 Fans zu.
Und er war Vorbild für unzählige Spieler. Etwa für Felix Lebrun, das gerade einmal 17 Jahre alte französische Wunderkind, das die Sommerspiele mit seiner Schlaggewalt aufgemischt hatte und das ebenfalls geboren scheint, um das chinesische Imperium herauszufordern, eventuell gar die Tischtennisordnung auf den Kopf zu stellen. In seiner Heimat brach ein gigantischer Hype los, vergleichbar mit jenem um Fußballstar Kylian Mbappé.
Nun endet die Zeit des deutschen Giganten. Und das vor großer Kulisse in der Arena Süd 4, die zum brodelnden Stimmungstempel in Paris geworden war. Wieder ausverkauft, na klar. Der schwedische König Carl Gustav war zu Gast, der in diesen Tagen sportliche Feste feiern kann. Erst bestaunte er den Weltrekord von Stabhochspringer Armand Duplantis und schloss ihn in die Arme, dann sah er die Auferstehung der schwedischen Tischtennis-Nation, die ja einst mit Jan-Ove Waldner, Jörgen Persson und Mikael Appelgren große Helden hatte. Ob die aktuelle Generation in diese Fußstapfen treten kann? Das Talent dafür haben die Jungs auf jeden Fall.
"Ich habe mich immer wieder dagegen gesträubt"
Und noch ein Gigant war gekommen, um Boll zu bestaunen: Dirk Nowitzki, seit Jahren ein guter Freund. Und seit Jahren auch ein Karriereberater. "Er sagt schon jahrelang, hör' endlich auf, dass wir ein bisschen mehr zusammen unternehmen können. Ich habe mich immer wieder dagegen gesträubt, aber jetzt ist es so weit." Zumindest auf internationalem Parkett. Für seinen Heimatklub Borussia Düsseldorf möchte er noch ein Jahr spielen, verkündete er schon im Mai. "Ein ganz Großer tritt ab. Es hat mich gefreut, dass es geklappt hat, dass ich dabei sein konnte", sagte der frühere NBA-Champion Nowitzki. "Ich habe Timo 2008 kennengelernt bei den Olympischen Spielen in Peking, wir sind seitdem sehr, sehr gut befreundet. Wir sehen uns oft im Jahr. Er ist ein herzensguter Mensch."
Was waren das für emotionale Szenen, als Boll seine letzte Vorhand über den Tisch gehauen hatte. Erst lächelte der 43-Jährige kurz, dann überkamen ihn die Emotionen. Die Halle erhob sich, rief seinen Namen. Nicht nur die deutschen Fans. Alle ließen den Mann hochleben, der diesem spektakulären Sport so viele große und großartige Momente geschenkt hatte. Auch die Schweden, die sich ehrfürchtig aufreihten und applaudierten. Boll grüßte mit den Händen ins Publikum und vergrub schließlich sein Gesicht im Handtuch. Er trocknete seine Tränen. "Als die Sprechchöre mit meinem Namen kamen, hat es mich brutal übermannt."
"Das Leben danach ist nicht so schlimm"
Er könne, befand Boll, "ganz zufrieden sein, wie die vergangenen 25 Jahre gelaufen sind. Und ich werde wirklich sehr viel vermissen. Es hat sich aber alles bis heute richtig angefühlt." Der unvermeidliche Abschiedsschmerz, er war natürlich greifbar. "Ich kenne die Jungs schon so lange, mit Dima (Anmerk. d. Red.: Dimitrij Ovtcharov) spiele ich seit 18 Jahren, das ist wirklich eine kleine Familie", sagte Boll: "Ich bin gerade schon sehr emotional." Wie es für ihn weitergeht? Er weiß es noch nicht genau. Vor dem Tischtennis-Helden hatten sich bereits einige deutsche Sport-Riesen in den Ruhestand verabschiedet: Tennis-Ikone Angelique Kerber, Beach-Legende Laura Ludwig und 3x3-Olympiasiegerin Svenja Brunckhorst. Für Turn-Weltmeister Lukas Dauser waren es jetzt definitiv die letzten Spiele, eventuell hört er auch ganz auf. Gleiches gilt für "Hammer-Schorsch", die Volleyball-Ikone Georg Grozer.
Nowitzki nimmt ihm zumindest die Angst vor dem Loch: "Es liegen viele schöne Zeiten vor ihm", sagte die Basketball-Legende der Deutschen Presse-Agentur. "Wir Athleten haben immer ein bisschen Angst davor, aufzuhören. Wenn man eine Sache 20, 25, 30 Jahre lang gemacht hat – da gehört eine gewisse Leere dazu erstmal. Das Leben danach ist aber nicht so schlimm, wie es sich anhört." Und die ursprünglich anvisierte, vermutlich eher weniger aufregende Banklehre, die wird es nicht. Das ist klar.
Quelle: ntv.de