Warnung vor neuem Lira-Absturz Erdogans Erfolg lässt Börse in Istanbul einbrechen
15.05.2023, 13:00 Uhr Artikel anhören
Die türkische Lira war im März nach der Erdbeben-Katastrophe in der Türkei auf ein Rekordtief gefallen. Analysten erwarten in den kommenden Monaten einen weiteren heftigen Wertverlust.
(Foto: REUTERS)
Investoren hatten auf einen Sieg der Opposition bei den Wahlen in der Türkei gehofft. Die Sorge, dass Amtsinhaber Erdogan und seine AKP ihre eigenwillige Wirtschaftspolitik auf Kosten der türkischen Währung und der Preisstabilität fortsetzen, lässt Kurse an der Börse nun einbrechen. Der Lira könnte ein neuer, dramatischer Absturz bevorstehen.
Schockiert reagiert der Finanzmarkt in Istanbul auf das Ergebnis der ersten Wahlrunde der türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahl. Der Aktienindex BIST 30 sackte kurz nach Handelsbeginn um 6,6 Prozent ab, worauf der Handel an der Istanbuler Börse zeitweise unterbrochen wurde. In Dollar notierte türkische Staatsanleihen gaben nach, die Kosten für Kreditausfallversicherungen für die türkischen Staatsschulden schnellten in die Höhe. Die Lira verharrt auf dem niedrigsten Stand seit zwei Monaten. Analysten vermuten, dass die türkische Währung nur deshalb nicht weiter einbrach, weil staatliche Banken auf dem Devisenmarkt intervenierten, um die Lira zu stützen.
Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan liegt bei der Präsidentschaftswahl nach Auszählung fast aller Stimmen knapp vor seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Keiner der beiden Kandidaten konnte jedoch die absolute Mehrheit bereits im ersten Durchgang hinter sich versammeln, sodass es in zwei Wochen zur Stichwahl kommt. "Das ist eine größere Enttäuschung für Investoren, die auf einen Sieg des Oppositionskandidaten Kilicdaroglu und eine Rückkehr zu der von ihm versprochenen orthodoxen Wirtschaftspolitik gehofft hatten", sagt Hasnain Malik, Chefanalyst beim Analysehaus Tellimer.
Bei der Präsidentschaftswahl geht es nicht nur um die Frage, wer das Land regiert - es geht auch darum, wie groß der Einfluss der Politik auf Wirtschaft und Notenbank ist. Erdogan, in der ersten Phase seiner Zeit als Regierungschef ein Liebling internationaler Investoren, hatte in den vergangenen Jahren die Unabhängigkeit der Zentralbank ausgehöhlt. Trotz einer seit Jahren hohen Inflation wurde der Leitzins kaum angehoben, zuletzt wurde er sogar wieder gesenkt, um die Kreditvergabe anzuheizen und damit das Wirtschaftswachstum hoch zu halten. "Das schafft kein Vertrauen", sagte Thomas Gitzel, Chefvolkswirt bei der VP Bank. Es müsse deswegen auch nicht weiter verwundern, dass sich die Lira im freien Fall befinde.
"Latentes Risiko eines Zahlungsausfalls"
Der Oppositionskandidat Kilicdaroglu hatten im Wahlkampf versprochen, die Unabhängigkeit der Zentralbank wiederherzustellen und die Inflation konsequent zu bekämpfen. Allerdings ist offen, ob er eine entsprechende Politik durchsetzen könnte. Denn bei der gestern zeitgleich mit der Präsidentschaftswahl abgehaltenen Parlamentswahl liegt Erdogans AK-Partei deutlich vor dem Oppositionsbündnis. Selbst wenn sich Kilicdaroglu in einem zweiten Wahlgang durchsetzen sollte, hätte er keine Mehrheit im Parlament.
Die türkische Lira reagierte zunächst kaum auf den Wahlausgang. Am Montag mussten für einen Dollar 19,66 Lira gezahlt werden, damit verharrte die türkische Währung auf dem niedrigsten Niveau seit dem Erdbeben vom März, als sie auf ein Rekordtief von 19,80 Lira je Dollar gefallen war. Angesichts der nun bevorstehenden zwei Wochen mit politischer Unsicherheit wäre eigentlich auf den ersten Blick ein stärkerer Rückgang zu erwarten, schrieb Sandra Striffler, Analystin bei der DZ Bank. "Informierten Kreisen zufolge sollen allerdings staatliche türkische Kreditinstitute Dollar verkauft haben, um die eigene Währung zu stützen, was die vordergründige Ruhe der Lira erklären würde", erklärte sie.
Experten gehen dennoch davon aus, dass der türkischen Währung ein weiterer Kursverlust bevorsteht. Die Fachleute von JPMorgan sagen einen Kurs zum Dollar von 24 bis 25 Lira voraus, Goldman Sachs hält eine weitere Abwertung binnen zwölf Monaten um 50 Prozent für möglich. Das wiederum treibt die Lebenshaltungskosten in der Türkei nach oben, weil sich Einfuhren massiv verteuern. Gitzel sagte, sollte eine neue Regierung die Unabhängigkeit der Notenbank garantieren, hätte dies positive Auswirkungen auf die Lira, was die Inflation dämpfen würde. Allerdings sei nicht damit zu rechnen, dass sich mit einer Wiederwahl Erdogans am grundlegenden wirtschaftspolitischen Kurs etwas ändere - deswegen bleibe die Lira unter Druck. "Das latente Risiko eines Zahlungsausfalls würde fortbestehen."
Quelle: ntv.de, mbo/rts/DJ