Weihnachtsmann aus ChinaTemu und Shein ruinieren dem deutschen Einzelhandel den Advent
Von Christina Lohner
Auch Geschenke werden in diesen Tagen zunehmend auf Billigplattformen bestellt. Den wahren Preis übersehen dabei viele Kunden, wie eine Handelsexpertin betont.
In diesen Wochen geht es für den Einzelhandel um alles, das Weihnachtsgeschäft macht fast ein Fünftel des Jahresumsatzes aus. Angesichts der großen wirtschaftlichen Unsicherheit läuft es bisher jedoch schlecht, zwei Drittel der Händler sind laut dem Branchenverband HDE unzufrieden. Neben der allgemeinen Kaufzurückhaltung liegt das auch am wachsenden Erfolg chinesischer Billiganbieter. "Das spielt eine bedeutende Rolle", sagt Julia Thalmann, Professorin für Handel und E-Commerce an der Hochschule Ruhr West, im Gespräch mit ntv.de. "Und das Weihnachtsgeschäft auf diesen asiatischen Marktplätzen wird weiter an Dynamik gewinnen."
"Viele Kundinnen und Kunden haben Temu und Shein inzwischen als feste Einkaufsalternative im Kopf verankert", sagt Thalmann. Dass die Plattformen häufig wegen Qualitäts- und Sicherheitsmängeln kritisiert werden, ändere daran wenig. "In den vergangenen Jahren waren viele Haushalte durch die Inflation stark belastet, und in solchen Situationen wird der Preis zu einem zentralen Entscheidungskriterium." Zwar äußerten Verbraucher in Umfragen regelmäßig Bedenken bezüglich Produktstandards, Nachhaltigkeit und Inhaltsstoffen. "Aber wenn budgetäre Zwänge dominieren, wird der Preis zu einem äußerst wirksamen Hebel."
Temu und Shein werden hierzulande nach Schätzung des HDE allein im November und Dezember einen Umsatz von bis zu einer Milliarde Euro erzielen. "Diese Verkäufe entgehen den Händlerinnen und Händlern in Deutschland", sagt Verbandsgeschäftsführer Stefan Genth. Jeder verlorene Euro hinterlasse Spuren. Insgesamt rechnet der Verband in den beiden Monaten mit 126 Milliarden Euro Umsatz - inflationsbereinigt wäre das etwa so viel wie im Vorjahr.
Der Anteil der chinesischen Portale wäre damit noch überschaubar, doch deren Erfolg wächst rasant. Der Modehändler Shein belegt hierzulande inzwischen Rang sieben der Onlineshops. Unter den Marktplätzen vervierfachte Temu den Wert seiner Bestellungen in Deutschland zuletzt auf 3,4 Milliarden Euro und kletterte damit vom elften auf den fünften Platz.
"Händler überlassen Feld nicht kampflos anderen"
Durch die ständig verfügbaren Angebote bei den Billiganbietern verschiebt sich auch das Weihnachtsgeschäft wieder. Die in den vergangenen Jahren vorgezogenen Käufe rund um den Black Friday verlieren laut Thalmann an Bedeutung. Zwar sind Rücksendungen in die Volksrepublik oft umständlicher als bei hiesigen Händlern. "Aber die Logistik hat enorm aufgeholt, Lieferzeiten sind heute deutlich kürzer als noch vor wenigen Jahren", erklärt die Handelsexpertin. Hinzu kämen Erfolgsfaktoren wie stark personalisierte Startseiten, Gamification und kontinuierliche Rabattmechanismen, die die Kaufwahrscheinlichkeit erhöhen.
Bereits vor knapp zwei Jahren wurde die Zahl der Pakete, die Temu und Shein täglich nach Deutschland senden, auf 400.000 geschätzt. Im vergangenen Jahr verdoppelte sich die Zahl der in der EU ankommenden E-Commerce-Pakete mit geringem Wert auf 4,6 Milliarden. Mehr als 90 Prozent davon kamen aus China.
Die EU will angesichts der Paketflut nächstes Jahr - und damit zwei Jahre früher als geplant - Zölle auf Billigpakete erheben. Bisher waren die Sendungen bis zu einem Wert unter 150 Euro vom Zoll befreit. In den USA ging das Geschäft von Temu im Sommer infolge neuer Zollregelungen stark zurück.
Auch bei neuen EU-Zollregeln erwartet Thalmann allerdings keine grundlegende Trendwende. "Die Erfahrung zeigt, dass internationale Anbieter schnell Wege finden, regulatorische Anforderungen zu umgehen oder über alternative Logistikrouten zu kompensieren." Plattformen hätten ein strukturelles Interesse daran, Wettbewerbsvorteile zu erhalten. "Händler überlassen dieses Feld grundsätzlich nicht kampflos anderen."
Skandale schrecken nur kurz ab
Eine klassische Stärke des Handels gerate dabei zunehmend unter Druck: "Der ursprüngliche Gedanke, dass Händler Waren kuratieren und Qualitätsstandards sichern, verliert im Kontext hypergünstiger Onlineangebote an Sichtbarkeit." Wenn der Preis in den Vordergrund rücke, trete der Qualitätsanspruch vieler Anbieter in den Hintergrund. Auf einigen Marktplätzen entstehe dadurch eine kaum kontrollierbare Vielfalt unterschiedlichster Waren, oft mit intransparenten Lieferketten und Qualitätsniveaus.
Selbst zuletzt bekanntgewordene Skandale wie Schadstoffe in Produkten oder der Verkauf von kindlich wirkenden Sexpuppen durch Shein in Frankreich verändern das allgemeine Konsumverhalten nach Thalmanns Einschätzung nur kurzfristig. Preisorientierte oder finanziell eingeschränkte Kundengruppen ließen sich von solchen Meldungen häufig nicht dauerhaft abschrecken.
Eine entscheidende Rolle spielt der Komfort beim Internetkauf, wie bereits der rasante Aufstieg von Amazon gezeigt hat. "Online-Shopping folgt heute eingespielten Routinen", erklärt Thalmann. "Mit wenigen Klicks ist der Kauf abgeschlossen, Versandkosten entfallen oft - das senkt die Hürde enorm." Hinzu kämen psychologische Effekte: "Instant Gratification", also die sofortige Befriedigung von Wünschen und Bedürfnissen, sowie kleine Belohnungsmomente beim Kauf, die Plattformen durch permanente Anreize verstärken.
Vor allem junge Kunden im Zwiespalt
Die Expertin betont, die Qualität ultragünstiger Produkte sei häufig so niedrig, dass sie schnell entsorgt würden. "Der hohe Einsatz synthetischer Materialien erschwert das Recycling erheblich. Langfristig ist das weder ökologisch noch gesundheitlich unbedenklich." Gerade jüngere Verbraucherinnen und Verbraucher seien dafür durchaus sensibilisiert.
Paradox sei dabei jedoch, dass Plattformen wie Temu und Shein ausgerechnet diese Zielgruppe besonders stark ansprechen. "Die Kombination aus extrem niedrigen Preisen, algorithmischer Personalisierung, Gamification und dem schnellen Bestellvorgang spricht viele junge Konsumenten sehr direkt an", sagt Thalmann. "Der schnelle Klick erzeugt kurzfristige Belohnungseffekte - aber diese Form des Konsums hat eben auch ihren Preis."