Vermittlung gerät zur Nullnummer Geißler schwenkt ein
08.10.2010, 18:54 UhrDie Schlichtung hat noch nicht begonnen – da scheint sie bereits am Ende. Am Donnerstag war er der Hoffnungsträger der Gegner von Stuttgart 21, am Freitag lässt sich der Vermittler Geißler von Ministerpräsident Mappus einfangen. Ein Dialog mit den S21-Gegnern rückt damit in weite Ferne.

Mappus (l) und Geißler. Worin wird die "Schlichtung" bestehen? einen halben Bahnhof gibt es nicht.
(Foto: REUTERS)
Die geplante Schlichtung zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 droht am Streit über einen Baustopp zu scheitern. Die Grünen pochen auf die Aussetzung der Bau- und Vergabearbeiten, was CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus allerdings ablehnt. Der mit der Vermittlung beauftragte CDU-Politiker Heiner Geißler habe zu Recht darauf hingewiesen, dass für die Dauer solcher Gespräche eine Friedenspflicht gelte, erklärte Grünen-Chef Cem Özdemir in Berlin. "Das bedeutet, dass ein Bau- und Vergabestopp notwendig ist." Auch der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, Ulrich Maurer, betonte, eine Schlichtung sei nur sinnvoll, wenn die Bauarbeiten ruhten. Geißler wiederum will nun so aber nicht verstanden werden – und schwenkt 24 Stunden nach seinen ersten "Baustopp"-Äußerungen auf die Linie von Mappus ein. An diesem Samstag wollen wieder zehntausende Gegner von Stuttgart 21 auf die Straße gehen.
Baustopp wird abgelehnt
Mappus und Geißler seien sich von Anfang an einig gewesen, dass während der Schlichtungsverhandlungen Friedenspflicht für die Planer und die Gegner des Projekts herrscht, hieß es am Freitag in einer gemeinsamen Mitteilung. Demnach soll der Großteil der Bauarbeiten ruhen, die Einrichtung des Grundwassermanagements für den neuen Tiefbahnhof soll aber weitergehen.
Am Donnerstag hatte Geißler noch gesagt: "Es dürfen kein vollendeten Tatsachen geschaffen werden, während wir verhandeln." Das sorgte für Verwirrung, weil der Satz so verstanden wurde, dass alle Arbeiten während der Schlichtung ruhen. Postwendend hatten Mappus und Bahnchef Rüdiger Grube dementiert, dass sie dem zugestimmt hätten.
S21-Gegner beharren auf Baustopp
In der vom Staatsministerium verbreiteten Mitteilung hieß es, Geißler habe nie von einem "generellen Baustopp" gesprochen. "Das Schlichtungsverfahren soll wie geplant zügig vorangehen, Ende nächster Woche begonnen und nach Möglichkeit auch bis Ende November abgeschlossen werden."
Das dürfte schwierig werden, weil es für die Gegner des Projekts nicht ausreicht, dass nur ein Großteil der Bauarbeiten ruht: Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 will einen "sofortigen Bau- und Vergabestopp". Damit steht der Start der Schlichtung kommende Woche auf der Kippe.
Das Bündnis nahm Geißlers Erklärung vom Donnerstag beim Wort: "Wie von Herrn Geißler vorgetragen, halten wir für erfolgreiche und ergebnisoffene Gespräche einen sofortigen Bau- und Vergabestopp sowie die Offenlegung der Zahlen und Fakten für selbstverständlich." Der Zusammenschluss von Umweltgruppen, Verkehrsclubs, Parkschützern, Grünen und Linken versprach im Gegenzug, keine Klagen einzureichen oder Blockaden zu errichten.
Mappus will Ruhe im Gespräch
Mappus hält die Vermittlung trotz der verwirrenden Aussagen Geißlers nicht für gescheitert. "Die Atmosphäre ist natürlich ziemlich aufgeheizt und hektisch. Das macht es den Beteiligten natürlich nicht leicht", sagte er der "Bild"-Zeitung. "Umso wichtiger ist jetzt, dass so schnell wie möglich Ruhe in die Gespräche kommt."
Hauptstreitpunkt sind die bereits begonnene oberirdische Verlegung von 17 Kilometer Rohren und das Bohren von 90 Tiefbrunnen für die Regulierung des Grundwassers bei dem geplanten Tiefbahnhof. Mappus und Grube wollen diese Arbeiten fortsetzen - und Geißler akzeptiert das nun.
Kretschmann rudert auch - in die andere Richtung

Grünen-Fraktionschef Kretschmann: "Der angekündigte Baustopp wäre eine gute Grundlage gewesen, um Vertrauen zu schaffen."
(Foto: dpa)
Mappus und Geißler verwiesen darauf, dass die Grünen-Landtagsfraktion die Fortführung dieser Arbeiten prinzipiell nicht infrage stelle. Sie spielen damit auf das Zugeständnis von Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann an, während der Schlichtung könne das Grundwassermanagement weiterlaufen. Kretschmann hatte jedoch nach einer Telefonschaltkonferenz mit den Bundes-Grünen klargestellt, dass in der Zeit der Gespräche keine Fakten geschaffen werden sollten, die einen möglichen Ausstieg aus dem Projekt in finanzieller oder in baulicher Hinsicht erschwerten oder gar unmöglich machten.
CDU und FDP kritisierten Kretschmanns Kurswechsel. CDU- Fraktionschef Peter Hauk forderte die Grünen auf, "Gespräche nicht zu gefährden, bevor sie richtig begonnen haben." FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke meinte: "Kretschmanns Lavieren lässt erkennen, dass es den Grünen im Grunde nur darum geht, konstruktive Gespräche erst gar nicht in Gang kommen zu lassen." Aber auch bei der FDP gibt es große Vorbehalte gegen Geißler. Dessen Berufung wertete FDP-Landeschefin Birgit Homburger als eine unglückliche Wahl.
Ulm wundert sich - und reagiert
In anderen Teilen Baden-Württemberg stößt der Streit um den Neubau zunehmend auf Unverständnis. Scharfe Kritik an den Gegnern übte Ulms Oberbürgermeister Ivo Gönner. "Ich habe noch nie verstanden, wieso man einen Baustopp machen kann, wenn ein Bauherr - hier die Bahn - ein Baurecht hat", sagte der SPD-Politiker. Im Übrigen handele es sich nicht um ein Lokalprojekt: "An dem Projekt hängt Ulm und die ganze Region."
Stuttgart 21 sieht den Umbau des Stuttgarter Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm vor. Das soll 4,1 Milliarden kosten. Hinzu kommt die neue Schnellbahnstrecke nach Ulm, die mit 2,9 Milliarden Euro veranschlagt wird. Kritiker rechnen mit höheren Kosten.
In der aufgeregten Debatte um eine angeblich fehlende Bürgerbeteiligung gehe völlig unter, was der Ausgangspunkt sei, so der Ulmer OB. "Zwischen Stuttgart und Ulm gibt es eine Eisenbahnstrecke, die 160 Jahre alt und nicht zukunftsfähig ist. Die muss erneuert werden." Angesichts hunderter Debatten und Informations-Veranstaltungen sei es "völliger Schwachsinn", von einer gescheiterten Kommunikationsstrategie zu reden. Gönner kritisierte dagegen "Allmachtsphantasien" bei einigen Akteuren. Den Gegnern des Projektes warf der Ulmer Oberbürgermeister zudem vor, die Basis des Rechtsstaats infrage zu stellen. "Bei uns gilt immer noch: Wer nach langer Diskussion und öffentlicher Beteiligung ein Baurecht bekommen hat, darf nach unseren rechtsstaatlichen Geflogenheiten auch bauen." Mittlerweile sei eine Bürgerinitiative in Ulm und der Region mit dem Motto "Ja zur Neubaustrecke" entstanden.
Stimmungseinschätzung unterschiedlich
Rund eine Woche nach der gewaltsamen Räumung des Schlossgartens erhoben an den Demonstrationen beteiligte Schüler massive Kritik am Polizeieinsatz. "Wer so was einen verhältnismäßigen Einsatz nennt, der muss politische Verantwortung tragen", sagte Tobi Tegl von der Jugendoffensive gegen das Bahnprojekt. Er rief die Parteien im Landtag auf, den Weg für einen Untersuchungsausschuss freizumachen.
Umstritten ist, wie die Bürger außerhalb von Stuttgart zu dem Bahnhofsprojekt stehen. Ulms Oberbürgermeister warnte davor, von Stuttgart auf das Land zu schließen. Die Stimmung sei in der Region überwiegend positiv. Bundesweit scheint dies aber anders zu sein: 54 Prozent der Deutschen hielten das Projekt "im Großen und Ganzen für falsch", ergab eine ARD-Umfrage. Ein Drittel der Deutschen hält Stuttgart 21 dagegen für "im Großen und Ganzen richtig".
Quelle: ntv.de, hdr/dpa/rts/AFP