
Die Lissabon-Fotos von Ute und Werner Mahler entstanden 1987 und 1988 - sie sind das erste Gemeinschaftsprojekt des Paares, das danach jahrzehntelang jeder für sich arbeitete.
(Foto: © Ute Mahler, Werner Mahler / Hartmann Books)
Ende der Achtzigerjahre hatten das ostdeutsche Fotografenpaar Ute und Werner Mahler und der Autor Wolfgang Kil die glückliche Gelegenheit, für die Arbeit an einem Bildband nach Lissabon zu reisen. Dann fiel die Mauer, die DDR ging unter, das - fast fertige - Buch damit auch. Nun kommt es doch noch heraus, aber ganz anders.
Die Möglichkeit, die Welt zu bereisen, war für Bewohner der DDR bekanntermaßen eher beschränkt. Trotzdem - oder erst recht - war die Neugier auf fremde Länder, Menschen, Kulturen, Landschaften groß. Reiseliteratur und Bildbände erlaubten wenigstens in Buchform einen Blick in die Welt, von der ein großer Teil den meisten versperrt war. In den 1980er-Jahren hatte der Verlag Volk und Welt bereits einige großformatige Bildbände zu Städten herausgegeben, unter hochkarätiger Beteiligung: etwa zu Paris mit Fotos von Roger Melis. Und zu New York mit Fotos von Arno Fischer und Text von Heiner Müller.

Ute und Werner Mahler sowie Wolfgang Kil 1987 in Lissabon (v.l.)
(Foto: © Ute Mahler, Werner Mahler / Hartmann Books)
Überaus begehrt waren diese Bildbände und so plante der Leipziger Brockhaus-Verlag Ende der Achtziger Ähnliches. Für Lissabon bekam das Fotografen-Paar Ute und Werner Mahler den Auftrag; den Text dazu sollte der (mit ihnen befreundete) Autor Wolfgang Kil schreiben. Warum sie als Paar - noch lange nicht im Rentenalter - gemeinsam in den Westen gelassen wurden? "Wir haben Kind und Haus als Pfand dagelassen", meine Ute Mahler bei der Buchvorstellung Ende November bei Bildband Berlin dazu.
Parallelen zur DDR
Die nächsten Hürden: wie hinkommen und wie den Aufenthalt finanzieren, der ja doch lange sechs Wochen dauern sollte? Schließlich war die DDR notorisch devisenklamm, westliche Währung knapp. TAROM, die Fluggesellschaft des sozialistischen Bruderlandes Rumänien, flog immerhin alle zwei Wochen nach Lissabon - eigentlich nur, um die Besatzungen osteuropäischer Schiffe auszutauschen. Aber mit langfristiger Planung waren auch hier irgendwann drei Plätze gebucht. Die Wohnung in einem Lissabonner Vorort wurde über Freunde organisiert.
Und das nötige Bargeld? Dafür, so erzählen es die Mahlers, tauschten sie den Vorschuss vom Verlag für das Projekt (eine größere Summe um die 20.000 DDR-Mark, so erinnern sie sich) schwarz 1:4 in Westmark um; damit konnten sie ganz gut leben. Denn Portugal war billig, ein armes Land - in das die vergleichsweise wohlhabenden Spanier busweise und fröhlich lärmend kamen, um preiswert einzukaufen.

Elegante Herren und träger Hund in der Rua Augusta samt Triumphbogen.
(Foto: © Ute Mahler, Werner Mahler / Hartmann Books)
Nicht die einzige Parallele, die Autor Kil zu West- und Ostdeutschland damals empfand - Portugal war erst kurz vorher, 1986, EU-Mitglied geworden und ihm drängte sich "die Vision auf: So ungefähr sähe es wahrscheinlich aus, wenn auch unser kleines ... Land DDR eines Morgens unter der begehrlichen Obhut der reichen Gesamteuropäer aufwachen würde." Einerseits das Nachholbedürfnis der Bürger bei Technik und Konsum, andererseits das Land als Feld für Investoren, als neues Geschäftsfeld. "So ungefähr, dachte ich damals, 1987 in Lissabon, würde es auch bei uns aussehen, wenn ..."
Fotografieren wie im Rausch
Also zogen die drei mehrere Wochen lang durch die Stadt - im Herbst 1987 und dann noch einmal im Frühsommer 1988, die Mahlers fotografierten "wie im Rausch", viel in Schwarz-Weiß, aber auch in Farbe: nicht nur das Alltagsleben, auch die wichtigsten Sehenswürdigkeiten sollten festgehalten werden. Das Besondere und das Typische, denn sie hatten einen Auftrag: den Menschen zu Hause, die sich selber kein Bild machen konnten, Lissabon zu zeigen. Ein Lissabon, das es heute so nicht mehr gibt - und das es auch damals kurz danach so nicht mehr gab: Ende August 1988 vernichtete ein gewaltiges Feuer große Teile der Altstadt Lissabons, das Stadtviertel Chiado. Die Katastrophe ließ das ganze Projekt stocken: Konnte, musste sie erwähnt werden im Buch? Stimmten die Bilder noch? Eine dritte Reise - aus verschiedenen Gründen unmöglich.
Es folgte das Jahr 1989 mit seinen bekannten großen Veränderungen, dem Mauerfall, der Vereinigung beider deutscher Staaten - und dem Ende vieler DDR-Betriebe. Der in Leipzig ansässige VEB Brockhaus wurde von der Treuhand an einen westdeutschen Verlag verkauft, für das im Entwurf fertige Buch gab es von dessen Seite kein Interesse und keinen Markt mehr, es versank sang- und klanglos.
Gehobener Bilder-Schatz
Das galt aber nicht generell für die Arbeiten von Ute und Werner Mahler - das Paar gründete 1990 gemeinsam mit anderen ostdeutschen Fotografen die bis heute sehr erfolgreiche und angesehene Agentur "Ostkreuz". Und Wolfgang Kil arbeitet seitdem als Kritiker und Publizist, mehrfach ausgezeichnet mit Journalistenpreisen. Der Schatz der Lissabon-Fotografien jedoch blieb seitdem im Keller der Mahlers vergraben. Dass er nun, Jahrzehnte später, doch noch gehoben wurde, ist einem mit ihnen befreundeten Grafiker zu verdanken, der zu Weihnachten 2021 mit einem der Abzüge beschenkt wurde und daraufhin fragte: "Gibt es davon noch mehr?" "Ja, ganze Kisten voll", so erzählt es Werner Mahler. "Daraus müsst ihr ein Buch machen!", so die einhellige Meinung der Weihnachtsgäste.
Zum Glück konnte auch ein Verlag, Hartmann Books, davon überzeugt werden - und so entstand schließlich nach mehr als drei Jahrzehnten vorliegender Bildband. Der - natürlich - vollkommen anders daherkommt als der ursprünglich geplante. Kein großformatiger Prachtband. Keine Farbfotos, keine Sehenswürdigkeiten. Alle Bilder in Schwarz-Weiß, komplett ohne Erklärungen, nicht eine Bildunterschrift. Aber die braucht man auch nicht - die Aufnahmen sprechen für sich.
Sie beobachten Menschen bei der Arbeit, in ihrem Alltag, im Café, auf der Straße, beim Reden, Rauchen, Gestikulieren, Kinder beim Spielen auf der Straße. Armut und politische Parolen an bröckelnden Fassaden. Menschen ganz nah, direkt in die Kamera schauend, offen. Oder in Gedanken versunken. Die Fotos sind nicht nüchtern, sondern "durchaus gefühlig und romantisch", so sieht es Autor Kil, von dem ein Text von 1990 zum ursprünglichen Buch und ein Essay zum aktuellen abgedruckt sind. Auch die natürlich mit Lissabon und den Portugiesen verbundene Melancholie ist sichtbar, fühlbar, aber ohne jedes Klischee. Einfach großartige Straßenfotografie.
Quelle: ntv.de