Silvana Koch-Mehrins Mutausbruch "Die Angst kommt, wann es ihr passt"
19.12.2022, 18:07 Uhr
Silvana Koch-Mehrin weiß, wie sie mit ihren Ängsten umgehen muss.
(Foto: Sebastian Knoth)
Angst gehört zum Leben. Doch wir gestehen sie uns oft nicht ein, weil wir uns lieber stark als schwach geben. Dabei sollten wir einfach mal offen über unsere Ängste sprechen. Über die Angst, Fehler zu machen, vor dem Alleinsein, vor dem Tod. Vor noch mehr Kriegen und Katastrophen. Über die Angst, dass wir die Zukunft gar nicht rosig sehen, aber gleichzeitig nicht für die letzten miesepetrigen "Angsthasen" gehalten werden wollen. Silvana Koch-Mehrin, ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und Gründerin eines internationalen Frauennetzwerks, hatte in ihrem bisherigen Leben mehr Ängste auszustehen als die meisten Menschen. Sie durchlebte als Politikerin Aufstieg und Fall, verlor ein Kind, eine Karriere, musste die Schockdiagnose Krebs verkraften. In "Jetzt, wo ich schonmal nicht tot bin" beschreibt Koch-Mehrin ihr altes und neues Leben, und wie sie es schaffte, mit der Angst umzugehen. Ihr Buch kann ein Anstoß sein: Dafür, was für ein Gewinn es wäre, wenn wir mehr voneinander wüssten, ehrlich miteinander sprechen und uns nicht hinter Fassaden verstecken würden. Mit ntv.de hat sie genau so gesprochen: ehrlich und offen.
ntv.de: Angst – kein leichtes Thema. Sie haben ein ganzes Buch darüber geschrieben ….
Silvana Koch-Mehrin: Uli Hauser und ich haben ein Mutmachbuch geschrieben. Ängste hatte ich immer weggepackt, aber letztendlich kann niemand, ich auch nicht, vor dem eigenen Leben wegrennen. Meiner Angst begegnet zu sein, beziehungsweise, dass ich mich mit meiner Angst so richtig konfrontieren musste, hat dazu geführt, dass ich für sie einen Platz finden musste - denn es gab keine Möglichkeit, ihr aus dem Weg zu gehen. Und das wiederum hat dazu geführt, dass ich diese Angst vor der Angst so nicht mehr haben muss. Ein echtes Lerngeschenk!
Wenn man anfängt, sich mit einem Angstthema auseinanderzusetzen, weckt man da nicht auch viele schlafende Hunde?
Ja. Mir hat sich beim Schreiben auch die Frage gestellt, wie viel ich von mir preisgeben will. Da war es letztendlich sehr gut, mit Uli Hauser zusammenzuarbeiten, ihn als Journalisten, der sich sehr vielen, sehr komplexen menschlichen Themen in seiner Arbeit gewidmet hat, dabei zu haben. Er hat mir gesagt: "Du willst doch Mut machen, offen zu sein. Fang mal an damit!" Er hat nachgefragt, wo mir Dinge selbstverständlich erschienen sind. Und es ist ja so, dass meine eigenen Geschichten auch die Geschichten von vielen anderen Menschen sind. Was man selbst für einzigartig hält, haben so viele andere auch schon erlebt.
Bei welchem Thema ist es Ihnen am schwersten gefallen, darüber zu sprechen beziehungsweise zu schreiben?
Tausende von Frauen erleben jedes Jahr eine Totgeburt. Der Schmerz, der Verlust des Kindes, das machen sie oft im Stillen mit sich aus. Dieses Thema im Buch anzusprechen, das war nicht leicht, weil viele meiner Erinnerungen wieder sehr präsent waren.
Das Buch ist sehr persönlich geworden – und macht auch die Qualität aus, weil man sich angesprochen fühlt. Aber wer über Ihre Ängste liest, muss damit rechnen, dass auch die eigenen Ängste getriggert werden …
Das weiß ich nicht. Wir alle merken doch jetzt, dass wir sehr viele Jahre sehr bequem leben konnten, in unserem Land. Mit Covid und dem Ukraine-Krieg ist uns allen bewusst geworden, wie fragil dieser Wohlstand ist. Wir hinterfragen mehr. Vieles, was wir selbstverständlich fanden, ist es nicht mehr. Beispiel: Wir haben ein drängendes Energiethema und fragen uns, wie viel wir heizen dürfen. Mit dem Thema Energieverbrauch hätten wir uns schon längst viel intensiver auseinandersetzen sollen. Jetzt müssen wir es. Dieser Krieg löst Ängste aus. Gerade bei Jugendlichen. Für die es übrigens immer schwerer wird, überhaupt noch Therapie-Termine zu bekommen, wenn sie psychologische Hilfe brauchen.
Alte Gewissheiten stimmen nicht mehr: Wir haben gedacht, dass, wenn wir in der Corona-Zeit nur alles richtig machen, Maske tragen, uns impfen lassen, dass dann hinterher alles wieder so sein wird wie früher. Das ist es aber nicht.
Stimmt. Mein eigenes Erlebnis in Sachen "nichts ist wie vorher" war allerdings meine Krebsdiagnose. Da brach alles zusammen für mich. Was mach' ich jetzt damit, wie geh' ich damit um? Wir können uns bewusst werden, wie viel Kraft in uns selbst steckt. Und dass Hilfe anzunehmen keine Schande ist. Hilfe anzunehmen, ist mir aber immer sehr schwergefallen.
Hilfe in welcher Form?
Zum Beispiel durch eine Therapeutin. Ich dachte immer, die weiß doch gar nichts über mich, wie kann die mir dann helfen? Das kann doch niemand verstehen, was da bei mir los ist …
Das denkt jeder von sich …
Genau. Aber man denkt auch: So groß sind meine Probleme ja nun auch wieder nicht, dass ich psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen müsste. Aber ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass es - genau wie Krebsvorsorge oder Zahnprophylaxe - eine Art mentalen Check-up geben müsste.
Sind wir auf dem falschen Weg?
Wir haben feststehende Definitionen, wie die Begriffe "stark", "mächtig", "entscheidungsfreudig" auszusehen haben. Und da rücken wir nur schwer von ab. Aber damit kommen wir momentan nicht mehr weiter in der Sackgasse, in der wir gelandet sind. Warum eigentlich wird es als schwach angesehen, wenn wir mal sagen, dass wir erst noch nachdenken wollen? Oder offen sagen, ich fühl’ mich nicht wohl dabei, ich bin nicht gut genug informiert?
Sind Frauen trotzdem weitergekommen in den letzten Jahrzehnten?
Sind wir. Es ist aber ein so wahnsinnig langsamer Prozess der Veränderung. Feminismus ist inzwischen ja mehr als Alice Schwarzer, ohne ihre Erfolge kleinzureden. Feminismus ist ein breites Spektrum. Aber es gibt ein Rollback. Das Weltwirtschaftsforum rechnet jedes Jahr aufs Neue aus, wie lange es noch dauert, bis zur vollkommenen Gleichberechtigung. Und in den vergangenen Jahren ist die Tendenz wieder rückläufig, wir sind bei weit über 100 Jahren.
Sie haben in Ihrer Stiftung Women Political Leaders einen eigenen Index …
Ja, den Reykjavik-Index for Leadership, wo Kantar für uns die Menschen der G20 Länder befragt, was ihre Einschätzungen sind, was Frauen und Männer in Führungspositionen beispielsweise angeht. Nach wie vor werden Männer als besser geeignet gesehen, Chefs zu sein.
Der Titel Ihres Buches ist nicht ohne …
Uli, mein Co-Autor, nannte das, als ich den Satz gesagt habe: "Jetzt wo ich schonmal nicht tot bin", einen "Mutausbruch" (lacht). Er fand, dass dieser Satz perfekt mein Lebensgefühl heute beschreibt. Wir wissen theoretisch alle, dass wir sterben werden, aber trotzdem schätzen wir das Leben oft nicht genug.
Wann wurde die Angst für Sie zum Begleiter?
Als ich die Krebsdiagnose bekam, musste ich mich dem stellen. Ich musste mich immer wieder in die Hände von anderen begeben, von Ärzten, denen ich quasi meine Souveränität übergeben habe. Die Angst vor der Chemo-Therapie hat mir so den Boden unter den Füßen weggezogen, da musste ich mich mit meiner Angst auseinandersetzen. Auch mithilfe einer Psychotherapeutin. Die Angst meldet sich nicht an, sie kommt, wann es ihr passt. Ich kann aber darauf Einfluss nehmen, dass sie wieder geht, dass sie sich nicht vollends ausbreitet. Und ich kann lernen zu akzeptieren, dass Angst zum Leben dazu gehört. Das war mir erst durch der Krebserkrankung möglich.
Sie schreiben, Sie haben die Angst auseinandergenommen …
Ja, ich habe sie in verschiedene Teile zerlegt, dann ist sie nicht so furchteinflößend. Aber das funktioniert leider nicht immer. Die Angst ist ein sehr unabhängiger Geist (lacht). Sie kommt und wird ausgelöst in Momenten, in denen man es gar nicht vermutet. Was ich erlernen konnte, waren Techniken, um sich in einer akuten Situation selbst zu helfen. Festzustellen, dass man nicht ausgeliefert ist, sondern zu denken: "Ich habe ja immerhin noch mich, mich gibt es noch" - so kann man der Angst besser begegnen.
Angst auszulagern ist auch eine Möglichkeit, nicht nur im therapeutischen Sinne. Können andere einem die Angst abnehmen?
Offen darüber zu reden, das hilft auf jeden Fall. Man dreht sich sonst nur im Kreis.
Ist Angst ein guter Ratgeber, sollte man auf seine Angst hören?
Ich bin bewusster geworden. Mir ist vieles klarer und deutlicher geworden. Ein Riesenanteil an dem ganzen Zustand ist ja die Angst vor der Angst, die größer sein kann als die ursprüngliche Angst. Es ist oft das große Unbekannte, was einem so richtig Angst macht. Man sollte diese Angst also kennenlernen. Angst um andere, wie zum Beispiel die eigenen Kinder, ist aber nochmal etwas anderes.
Ein Kapitel Ihres Buches heißt "Guido", es geht um Guido Westerwelle. Vermissen Sie ihn?
Ja. Ich weiß, dass das keine Kategorie ist, um das zu bemessen, aber ich finde es so unfair, dass er so früh sterben musste. Er war ein Freund, ein Mentor, ein großer Politiker, und er wollte gerade ein neues Kapitel in seinem Leben beginnen. Er war noch nicht fertig.
Haben Sie noch Angst?
Immer wieder mal. Aber mein Vorteil ist, dass ich die Angst schon kenne. Und ich weiß, was sie mit mir macht. Ich beobachte mich dann selbst und schaffe damit Distanz.
Mit Silvana Koch-Mehrin sprach Sabine Oelmann
Quelle: ntv.de