Keine Angst vor Gaumensex Esst, was ihr wollt
28.05.2016, 13:45 Uhr
Es ist übrigens keine Schande, auch mal Appetit auf einen Hotdog zu haben.
(Foto: imago stock&people)
Montags nur Missionarsstellung und freitags nur französisch? Kein Mensch würde Vorschriften für die schönste Nebensache der Welt akzeptieren. Was viele dennoch nicht davon abhält, sich die schönste Hauptsache der Welt schlechtreden zu lassen.
Urtriebe des Menschen sind Ernährung (Essen) und Fortpflanzung (Sex). Beides sichert die Erhaltung unserer Art und beides ist sehr individuell, sehr persönlich – und erzeugt Glücksgefühle. Und natürlich gibt es keine Sexregeln, das würde sich jeder verbitten. Noch existenzieller als die "schönste Nebensache der Welt" ist aber die Ernährung, denn ohne zu essen sterben wir. (Ohne Sex nicht, nur würden wir immer weniger auf der Erde werden ...) Auch das Essen ist eine persönliche und wohlige Angelegenheit, denn jeder Mensch isst und genießt anders – warum also gibt es Ernährungsregeln, die für alle gelten sollen? Dieser berechtigten Frage ist der Ernährungswissenschaftler Uwe Knop nachgegangen: "Wer sich also beim lustbringenden Sex nicht von 'offiziellen Empfehlungen' reinreden lassen will, der sollte es beim lebenserhaltenden 'Gaumensex' erst recht nicht zulassen", schreibt Knop.
Schon in seinem Erstling "Hunger & Lust" empfiehlt Knop, auf den eigenen Körper zu hören, auf die "Kulinarische Körperintelligenz", über die jeder Mensch verfügt. Nun hat Knop nachgelegt. Nach seinem Appell, mehr auf das Gehirn im Bauch zu hören als auf den Verstand im Kopf, räumt er in "Ernährungswahn" weiter mit den Mythen um gesunde Ernährung und ungesunde Lebensmittel, Übergewicht und Diäten auf und erklärt, warum wir keine Angst vorm Essen haben müssen.
Nichts Genaues weiß man nicht, wie der Volksmund zu sagen pflegt. Dennoch reden und schreiben alle darüber, wie es der Mensch halten soll mit dem Essen, damit er gesund bleibt, lange lebt, fleißig arbeitet und sich fortpflanzt. Jede Ernährungsweise behauptet von sich, die allein seligmachende zu sein, das "Essen der anderen" wird verteufelt. Das hat tatsächlich etwas von Glaubenskrieg an sich. Wichtig für die Profilierung scheint zu sein, zu irgendeiner kulinarischen Diaspora zu gehören; wer sich normal ernährt, ist außen vor. Uwe Knop gehen all die sogenannten Esswahrheiten und Ernährungsratgeber gehörig auf die Nerven und er räumt auf mit dem Unsinn.
Wissenschaftlich fundiert
"Ernährungswahn" ist ein Sachbuch, kein trockenes Fachbuch, vermittelt aber nicht weniger Wissen, und zwar wissenschaftlich fundiert. Knops Sprache ist locker und verständlich, gleichermaßen unterhaltsam wie einprägsam, mitunter frech und witzig. Kopfschütteln oder Lachsalven, neue Einsichten oder Selbsterkenntnis dürften sich beim Lesen von Seite zu Seite ablösen. Wer hat nicht schon mal auf die bunten Blätter (nur beim Friseur gelesen!) mit all ihren Diätweisheiten gehört, schlechte Laune bekommen und stets wieder zugenommen? Wer hat nicht schon mal "der Gesundheit wegen" kübelweise Obst und grüne Blätter in sich hineingestopft, obwohl er davon Bauchschmerzen bekam?
Wer ehrlich zu sich selbst ist, entdeckt die eigenen Verirrungen, denn wer hat nicht schon mal die "gut gemeinten" Ratschläge irgendwelcher Ernährungsgurus befolgt? "Welche Ernährungsform man immer sich anschaut, Fakt ist: Wer sich zu einer bestimmten Ernährungsideologie bekennt, der muss einen festen Glauben haben, und zwar den Glauben an die 'Wirksamkeit', sei es zur Rettung respektive Erhaltung der eigenen Gesundheit oder gleich der ganzen Welt. Denn diesbezügliches Wissen in Form von Belegen existiert: keines", schreibt Knop.
Finaler Schub des Ernährungswahns
Uwe Knop beschreibt die Faktoren, die in Mangeljahren, in fetten und übersättigten Jahren die Ernährung prägen, bis hin zu unserer Zeit von Internet und sozialen Medien, in der es nicht mehr reicht, "politisch und ökologisch korrekt" zu essen. Heutzutage wird die Ernährung fehlgeleitet, um der Persönlichkeitsfindung und Profilierung zu dienen und wird so zum wichtigen Bestandteil des individuellen Lebensstils: "Ich zeige, was ich esse, und damit zeige ich, was ich bin und wo ich hingehöre." Oftmals gelte dabei das paradoxe Credo: Je mehr ich weglasse, desto mehr gibt mir die Ernährung – egal, ob das Weglassen Sinn hat oder nicht. "Verzicht zu leben bedeutet, Stärke zu zeigen" – und zu zeigen, wer man ist, das sei bei der "Generation online" fast noch wichtiger als "eating special". Vegan, vegetarisch, Low-Carb, Detox, Clean-Eating, Paleo, Bio, regional, "frei von" – egal, diese hochgradig emotional aufgeladene Ernährung diene vielen Menschen als Leitschnur des Lebens, als Orientierung in einer Existenz, die immer komplexer und komplizierter wird, heißt es bei Knop.
Wie auch alle Trends heißen mögen: Ernährung ist nicht mehr nur einfach Lebenserhaltung und Genuss, sondern verkommt zur Mode: Hauptsache, ich bin dabei - egal, wie oft ich diese eine beste Ernährungsform auch wechsle! Das wahnwitzige Kreiseln um das "einzig richtige Essen" und die Angst vor dem "falschen Essen" bezeichnet Knop als "frei erfundenen Hokuspokus", von dem einzig Lobbyverbände und Ernährungsgurus profitieren, die alle nur erdenklichen Produkte für die jeweilige Spezialernährung verkaufen.
Blödsinnigkeiten in der Welt der "gesunden" Ernährung
Wer noch nicht weiß, was so alles an Blödsinnigkeiten in der Welt der "gesunden" Ernährung existiert, es aber wissen möchte und vor allem, wie man diese Klippen umschifft, sollte unbedingt Knops "Ernährungswahn" lesen. Für sein Buch analysierte der Autor die vergangenen neun Jahre Ernährungsforschung (2007 bis 2015) anhand von über 1000 Studienergebnissen, objektiv und ideologiefrei – und kommt zu dem Schluss: "Ernährungsforschung ist vergleichbar mit Glaskugellesen."
Auf 180 Seiten erklärt Knop in kurzweiligen Kapiteln die Hintergründe: Der Ernährungsforschung zugrunde liegende Studien liefern niemals Beweise, sondern lassen nur äußerst gewagte Hypothesen und Vermutungen zu. Die Beobachtungsstudien und Statistiken sind methodisch unzulässig und von vielen unbekannten oder kaum messbaren Einflüssen abhängig – all diese Störgrößen lassen letztendlich keine wissenschaftlich vertretbare Erklärung für die beobachteten Zusammenhänge zu. "Kein Mensch weiß, was gesunde Ernährung ist", schlussfolgert Knop. Welches Essen für das einzelne Individuum gut und gesund ist, weiß nur der eigene Körper. Auf dessen Signale "Hunger, Lust und Sättigung" sollte jeder hören. Was für den einen ungesund ist, kann für den anderen genau das Richtige sein, denn es gibt keine allgemeingültigen Ernährungsregeln. "Leisten wir uns den Luxus, eine eigene Meinung zu haben", zitiert Knop Otto von Bismarck.
Nachlesenswertes findet man in diesem "Aufklärungsbuch für mündige Essbürger" auch zur Rolle von Schokolade und Süßstoff, Fastfood, Fett und Fleischeslust, zu den Prügelknaben Salz und Zucker, zum Versagen von Diäten und dem unsinnigen BMI. Als besondere Zielgruppen greift Knop Kinder, Sportler und Frauen in den Wechseljahren auf. Vor allem der überaus wichtigen Kinderernährung widmet er mehrere Seiten und erklärt, warum und wie Kinder anders essen müssen als Erwachsene, was Eltern alles falsch machen können, die das Beste für ihre Kinder wollen, aber mitunter das Schlimmste bewirken.
Das Taschenbuch "Ernährungswahn/Warum wir keine Angst vorm Essen haben müssen" von Uwe Knop ist bei Rowohlt erschienen, hat 188 Seiten und kostet 9,99 Euro.
Quelle: ntv.de