Bäume, Darm und viele Ichs Was Bestseller über die Gesellschaft verraten
08.07.2018, 16:25 UhrWarum interessierten sich die Leser 1985 für einen geruchsbegabten Serienmörder? Und was faszinierte sie genau 30 Jahre später am "Geheimen Leben der Bäume"? Jörg Magenau begibt sich auf die Spur der meistverkauften Bücher.
"Das Parfüm" von Patrick Süskind, "Er ist wieder da" von Timur Vermes und "Darm mit Charme" von Giulia Enders habe eins gemeinsam: Sie sind Bestseller. Bei diesem Wort zuckt so mancher Literaturexperte erschrocken zusammen. Denn nicht selten stehen die meistverkauften Bücher im Verruf, nur einen Massengeschmack zu bedienen und nicht durch Qualität zu glänzen.
Jörg Magenau schert sich zum Glück nicht um solche Vorbehalte. In seinem Buch "Bestseller" schreibt der Berliner Autor und Literaturkritiker über "Bücher, die wir lieben - und was sie über uns verraten". Dafür hat er sich über 100 Publikationen zwischen 1945 und 2018 angesehen. Seine Kriterien: hohe Auflage, große Aufmerksamkeit, spürbare Wirkung. Der Fokus liegt fast ausschließlich auf deutschsprachiger Literatur, die listenübliche Unterteilung in Belletristik und Sachbuch entfällt.
Gleich zu Beginn stellt Magenau klar: Das Erscheinen eines Buches auf einer Bestsellerliste ist per se kein Qualitätsmerkmal. Bei jedem Erfolgstitel gelte es zu unterscheiden, ob es sich "um einen Fall von Schwarmintelligenz handelt" oder "bloß um ein Beispiel dafür, dass der Teufel halt immer auf den größten Haufen scheißt".
Auch ist das Zustandekommen von Bestsellerlisten nicht immer leicht zu durchschauen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen, Quellen und Statistiken, die ihnen zugrunde liegen, dröselt Magenau informativ auf. Und natürlich bedeutet meistverkauft nicht meistgelesen. Das fast 1000-seitige DDR-Untergangs-Epos "Der Turm" von Uwe Tellkamp bezeichnet Magenau als das vielleicht "meist-ungelesene Buch" nach 1989.
Gibt es eine Bestseller-Formel?
Einfacher als die Frage nach den Bestsellerlisten ist die nach einer Bestseller-Formel zu beantworten: Sie existiert schlichtweg nicht. Allerdings scheint es ein paar allgemeine Regeln zu geben: Einfachheit ist das oberste Gebot, mehr als zwei Themen sind zu komplex. Gerne wird Bewährtes wiederholt und variiert, RomanheldInnen haben oft soziale oder körperliche Defizite, Sex ist eher kontraproduktiv.
Das wohl wichtigste Kriterium, das ein Buch zu einem Bestseller macht, unterliegt dem Zufall: Buch, Leser und eine bestimmte Stimmung in der Gesellschaft müssen zum richtigen Zeit zusammenfallen. An genau diesem Punkt setzt Magenau an. Er zeigt, dass Bestseller oft einen Nerv treffen und Indikator für die Befindlichkeiten der bundesrepublikanischen Leser sind.
So fanden die Deutschen in der Nachkriegszeit Trost bei C.W. Cerams "Götter, Gräber und Gelehrte". Die ferne Vergangenheit bot ihnen die Möglichkeit der Realitätsflucht, die Magenau allerdings nicht als reinen Eskapismus verstanden wissen will. Denn Ceram bot den Menschen anhand der antiken Trümmerwelt über Umwege die Beschäftigung mit den eigenen Traumtata.
Ängste, Sehnsüchte, Hoffnungen
In den 80ern, den Jahren der "German Angst" zwischen brüchigem Weltfrieden und bedrohter Natur, tauchte das bereits 1948 verfasste "Sorge dich nicht - lebe!" von Dale Carnegie erstmals in den Bestsellerlisten auf. Dort hielt es sich über Jahre hartnäckig. Gleichzeitig stürzten sich die Leser auf Süskinds Longseller "Das Parfüm" - und kompensierten mit der Angst der Pariser Bevölkerung vor dem geruchsbegabten Serienmörder Jean-Baptiste Grenouille ihre eigene Furcht.
In den Nullerjahren wurde dann in einer immer unsicherer werdenden Welt die Frage nach dem Ich virulent. Bücher wie Hape Kerkelings Pilgerweg-Tagebuch "Ich bin dann mal weg" und "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?" von Richard David Precht eroberten die Bestsellerlisten.
Auch in der jüngsten Vergangenheit der fortschreitenden Digitalisierung lässt sich ein Trend beobachten: die Rückbesinnung auf die Natur - und damit auch auf die Körperlichkeit. Letztere beackert zum Beispiel Giulia Enders 2014 in ihrem Sachbuch "Darm mit Charme". Ein Jahr später stand dann der Förster Peter Wohlleben auf Platz eins der Sachbuchbestsellerlisten. In "Das geheime Leben der Bäume" beschreibt er den Wald als eine solidarisch organisierte Gemeinschaft und damit als etwas, das den Menschen zunehmend verloren geht.
Und so erzählen die meistgekauften Bücher die Geschichte der Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen der Bundesbürger. "Wenn sie uns Fluchtmöglichkeiten boten, verrieten sie auch, wovor wir jedes Mal davongelaufen sind", so Magenau. Sein Streifzug durch die Bestsellerlisten der vergangenen Jahrzehnte ist erhellend und sehr unterhaltend. Und nicht zuletzt ein leidenschaftliches Plädoyer für das Lesen.
Quelle: ntv.de