Spätherbstmusik 2Rock für kalte Tage
Was ist fortschrittlich am Prog Rock? Warum sind Jethro Tull und Deep Purple nicht gaga? Gegen die Depression der dritten Jahreszeit hilft vor allem eins: wahnsinnig gute Musik. Hier einige Empfehlungen von unvergesslichen Alben.
Warum wird Prog Rock eigentlich Prog Rock genannt? Weil er progressiv/fortschrittlich ist? Bedeutet dies, dass der Rest regressiv, rückschrittlich ist? Es ist wohl so wie mit den vielen Schubladen, in die Kunstgenres hineingepackt werden: Irgendein Name muss her, wenn etwas Neues auftaucht. Und so war es wohl auch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, als die Beach Boys mit "Pet Sounds", die Beatles mit "Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band" und die Small Faces mit "Ogdens' Nut Gone Flake" - um nur diese zu nennen - eine komplexere Rockmusik auf den Markt brachten, welche den Three Chord Trash - wie es Midge Ure einmal in einem Gespräch mit dem Autoren dieser Zeilen formulierte – ersetzte. Jene Musik, die auf dem 12 Bar Blues aufbaute und mit drei Akkorden auskam.
Diverse: "Prog Rocks!"
Die Doppel-CD gestattet einen Einblick in die Arbeiten jener Künstler des Katalogs von EMI und der Unterlabel Labels Century Media, Inside Out und Superball. Schade, dass Yes und King Crimson bei anderen Plattenfirmen unter Vertrag sind - respektive waren.
Zugegeben: Nicht alles ist Gold, was da auf dem Cover glänzt. Kevin Ayers mit "Blue" kann ganz schön nerven, Marillion haben auch Besseres abgeliefert als "Golden Party". Aber wer die Emerson, Lake & Palmer-Vorläufer The Nice mit ihrem "Country Pie" und der Adaption des Bachschen Brandenburgischen Konzerts Nummer 6 hört, weiß, was die Prog Rock genannte Symbiose aus Rock and Roll und Klassik bedeutet. Das Electric Light Orchestra ist vertreten, ebenso der einstige Genesis-Gitarrist Steve Hacket, Gentle Giant, Roxy Music und … Jethro Tull: Mit ihrem unvergänglichen "Cross Eyed Mary" vom Superalbum "Aqualung", das dieser Tage 40 Jahre alt wurde.
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Jethro Tull: "Aqualung – 40th Anniversary Special Edition"
Und aus ebendiesem Grunde jetzt in einer Jubiläumsausgabe als Doppel-CD mit bislang unveröffentlichten Songs wiederveröffentlicht wurde. Digital überarbeitet und neu abgemischt, versteht sich, mit einem Equipment, das, so Produzent Steven Wilson, Ian Anderson und seine Mitstreiter 1971 gern gehabt hätten. Herausgekommen ist einer der Meilensteine der Rockmusik.
"Aqualung" ist die perfekte Mischung aus Jazz, Hardrock, Blues, Folk. Ein Album, das Maßstäbe setzt, bis auf den heutigen Tag. "Locomotive Breath", der Atem der Lokomotive, ist auch vier Dekaden nach seiner Erstveröffentlichung ein Stück, das einem den Atem raubt. Interessant sind die im Umfeld der Plattenproduktion aufgenommenen und die "unreleased" Tracks: "Wond’ring Aloud Again", nie veröffentlicht. Durch die Bank Stücke, die es verdient hätten, damals schon publiziert zu werden. Aber die Zeit war wohl noch nicht reif für Songs wie "Lick Your Fingers Clean", das erst 1988 auf einem "Best Of …" erschien. Kurzum: "Aqualung" ist zeitlose Musik, die auch dann noch gespielt wird, wenn man mit Lady Gaga nur noch assoziiert, dass sie gaga ist.
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Deep Purple: "Original Album Classics"
Das gilt auch für die bereits erwähnten Deep Purple. In der bewährten Preiswertedition "Original Album Classics" sind jetzt drei der weniger bekannten Langspielplatten der Urväter des Hardrock erschienen.
"Slaves And Masters" aus 1990, das dreizehnte Studiowerk, "The Battle Rages On", 1993, Nummer 14 des im Studio entstandenen Purple-Oeuvre und "Purpendicular" aus 1996, die fünfzehnte Studio-LP und die erste, auf welcher der in Hamilton/US-Bundesstaat Ohio geborene "guitar heroe" den englischen Vorzeigegitarristen Ritchie Blackmore der englischen Band ersetzte.
Stilistisch unterscheiden sich die drei CD kaum voneinander. Rock and Roll, der durch Ian Paices Schlagzeug angetrieben wird, ein Ian Gillan, der sich die Seele aus dem Leib singt – oder besser: seine ganze Seele in den Gesang einbringt, ein Roger Glover, ohne dessen Bass Deep Purple eine Folkgruppe geworden wären, ein Jon Lord, dessen Hammondorgel seit dem legendären "Concerto For Group And Orchestra" das Sahnehäubchen auf dem tiefpurpurnen Kaffee ist und die Gitarristen Blackmore respektive Morse. Purple-Puristen haben aus ideologischen Gründen ihre Schwierigkeiten mit Master Steve. Doch wer Morse live gesehen, nach dem Konzert gesprochen und dabei erlebt hat, wie exzellent der Mann sein Instrument beherrscht, weiß: Er kann Blackmore nicht nur das Wasser reichen, sondern ihm auch zeigen, wie daraus ein perfekter Tee gebrüht wird. Will heißen: Beide sind ex aequo die Nummer-1-Gitarrenspieler von Deep Purple. Stimmlich allerdings gibt es kleine, aber feine Unterschiede. Auf "Slaves And Masters" übernimmt der US-Amerikaner Joe Lynn Turner nach dem zeitweiligen Weggang von Ian Gillan für ein einziges Mal den Vokalpart. Turner war übrigens die Stimme von Blackmores zeitweiligem Soloprojekt Rainbow.
Deep Purple: "BBC Sessions 1968-70"
Das waren aber nicht die einzigen Leadvocals der Truppe. Bei ihren ersten Aufnahmen 1968/969 ist Rod Evans für den Gesangspart verantwortlich. Auf den endlich veröffentlichten Auftritten der Band im britischen Staatsrundfunk BBC, der sich anfangs zierte, Beatles & Co. zu spielen, ist auf CD/Platte 1 (1968/69) ein Sound zu hören, der dem der Hoch-Zeit der Band in den Siebzigern nahe kommt, aber wesentlich zurückhaltender ist. In "Hush", der ersten purpurnen Single, die es in den USA immerhin auf Platz 4 brachte, klingt an, wie Deep Purple einmal sein würden. Sie gingen dabei ähnlich wie Beatles vor und bedienten zunächst sich US-amerikanischer Vorlagen.
"Hush" war ein Hit des US-Amerikaners Billy Joe Royal, geschrieben von dessen Landsmann Joe South. Nur, dass es im Unterschied zum Original fast wie ein Choral klingt. Das trifft auf für die Version des Beatlesklassikers "Help!" zu. Auf der zweiten Scheibe, welche Studiokonzerte aus den Jahren 69 und 70 umfasst, sind Deep Purple zu erleben, wie sie die meisten wohl kennen: "Speed King", "Bloodsucker" "Into The Fire" von ihrem wohl besten Studioalbum "Deep Purple In Rock", dem vierten aus 1970. Und dann das unschlagbare "Child In Time" von derselben LP. Mit mehr als zehn Minuten war es damals ein ungewöhnlich langer Track, mit Tempiwechseln, in denen jeweils Jon Lords hämmernde Orgel und Ian Gillans klagender Gesang den Ton angeben. Dazu hat’s dann noch den unsterblichen BBC-Moderator Brian Matthews, der die Songs ansagt und die Band zu mehr oder weniger aufschlussreichen Aussagen bewegt. Und im Box Set ein sympathisch-antiquiertes Begleitbüchlein mit seltenen Fotos. Zurück zum Anfang: Progressiv war an Jethro Tull, Deep Purple und Partnern rein gar nichts. Aber wahnsinnig gute Musik haben sie gemacht.