Frust, Übermut oder Hass? Wie sind die Silvesterangriffe zu erklären?
04.01.2023, 10:30 Uhr
Verbrannte Elektroroller in Berlin-Neukölln.
(Foto: IMAGO/Jürgen Held)
Zu Silvester werden Polizei und Rettungskräfte gezielt angegriffen. Die Attacken lösen eine Debatte darüber aus, wer Retter und Ordnungshüter angreift und warum. Die Antworten sind nicht so leicht zu geben.
Wenn ein Notruf eingeht, fahren sie los: Feuerwehrleute, Polizeibeamte, Notärzte und Sanitäter. In jeder Silvesternacht ist mit vielen Notrufen zu rechnen, Alkohol, Schlafmangel, ausgelassene Stimmung und Pyrotechnik ergeben eine Mischung, die hohes Risikopotenzial mit sich bringt. Aus diesem Grund sind die Einsatzkräfte in dieser Nacht mit besonders viel Personal am Start. Doch in der zurückliegenden Silvesternacht werden die Retter und Ordnungshüter selbst zum Ziel von Angriffen. Sie werden mit Notrufen an bestimmte Orte gelockt und dort mit Schreckschusswaffen und Feuerwerkskörpern beschossen. Obwohl es brennt, können sie so lange nicht löschen, bis für sie selbst Schutz eintrifft. Rettungskräfte, die Verletzte ins Krankenhaus bringen wollen, können nicht weiterfahren, weil jemand einen Feuerlöscher in die Frontscheibe des Rettungswagens geworfen hat.
Drei Tage nach dem Jahreswechsel ist das Entsetzen über die Vorgänge in Berlin, Hamburg und weiteren Städten noch immer groß. Die Debatte dreht sich um die Sicherheit von Einsatzkräften, den Respekt gegenüber Staatsbediensteten und die Motivation möglicher Tätergruppen.
Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, sagte bei ntv über die Angreifenden, es handele sich um junge Männer "mit augenscheinlichem Migrationshintergrund". Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach neutraler von "Chaoten und Gewalttätern". In Augenzeugenberichten ist ebenfalls überwiegend von jungen Männern die Rede. Die angegebene Altersspanne liegt zwischen 14 und 35 Jahren. Manche von ihnen waren vermummt, was in einer eher lauen Silvesternacht zumindest eine gewisse Vorbereitung annehmen lässt. Faeser kündigte bereits an, man wolle die Tathintergründe aufklären. Immerhin war es Sicherheitskräften gelungen, einige Angreifer festzunehmen.
Coole Gewalt
Der Psychologe Ahmad Mansour forderte nach den Vorfällen eine "bundesweite Integrationsdebatte" und begründet dies damit, dass die Täter Menschen seien, "die nicht angekommen in dieser Gesellschaft" sind. Es handele sich um "eine Gruppe, die die Polizei und den Rechtsstaat teilweise verachtet und ablehnt", sagte Mansour der Welt.
Auch Heinz Buschkowsky, der frühere Bezirksbürgermeister von Neukölln, spricht im ntv-Interview von "bildungsfernen jungen Männern", die den Drang haben, "aufzutrumpfen". Dass diese Erklärung ausreicht, darf bezweifelt werden. Denn zu den Übergriffen kam es nicht nur im "migrantisch geprägten" Berliner Stadtteil Neukölln, sondern auch im fast schon ländlichen Lichtenrade, im familienfreundlichen Pankow, im hippen Mitte und im gutbürgerlichen Charlottenburg.
Auseinandersetzungen zu Silvester sind nicht neu. Oft werden in dieser Nacht Konflikte ausgetragen, die auch an allen anderen Tagen des Jahres existieren. In jugendlichem Übermut und mit Defiziten bei der Risikobewertung beschießen sich Jugendliche mit Böllern und Raketen. Vorfälle dieser Art sind wahrscheinlich am ehesten mit den Wirtshausschlägereien des vergangenen Jahrhunderts zu vergleichen. Der Psychologe Mansour sagte dem NDR, Gewalt sei inzwischen ein Jugendphänomen, sie gelte als "cool". Dies treffe mit der Ablehnung von Polizei und Rettungskräften als Repräsentanten des Staates zusammen, die auch wegen autoritärer Erziehungsmuster als schwach wahrgenommen werde. "Man sucht den Konflikt mit der Polizei, um seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen", so Mansour.
Schwieriges Strafen
FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle forderte im Deutschlandfunk eine schnelle Strafverfolgung und Verurteilung von Tätern nach dem beschleunigten Verfahren der Strafprozessordnung. Buschkowsky macht die "Kuscheljustiz" vergangener Jahre für die Zuspitzung verantwortlich. "Es gibt keine Konsequenz in dieser Gesellschaft, das ist das Problem", sagte der SPD-Politiker. Ein Forschungsprojekt zu Gewalt gegen Polizeibeamte von 2017 ergab jedoch, dass Abschreckung bei diesen Tätern nicht funktioniert, weil sie meist aus anderen Motiven handelten.
Ein Team um Rita Steffes-enn vom Zentrum für Kriminologie und Polizeiforschung fand heraus, dass es beispielsweise im häuslichen Bereich oft um die Verteidigung des eigenen Territoriums geht. Andere Tätergruppen nutzten die Polizei sozusagen als Gegner, um Spaß an der Gewalt auszuleben. Für wieder andere Täter steht die Polizei symbolisch für den Staat, den sie ablehnen. Dies gelte für Links- und Rechtsextreme gleichermaßen. Noch liegt die Motivation der Täter aus der Silvesternacht weitgehend im Dunkeln. Denkbar sind Frust ebenso wie Übermut, Lust auf Gewalt oder Hass auf staatliche Organe.
Kuhle sieht kein besonders "silvesterspezifisches Phänomen", die "Form der Respektlosigkeit und der Gewalttätigkeit" hätten aber in den letzten Jahren zugenommen. In bestimmten Bereichen der Gesellschaft gebe es "seit Jahren eine Steigerung der Aggression gegenüber Einsatzkräften". Das gelte gleichermaßen für Großereignisse wie für alltägliche Rettungseinsätze. Eine Sprecherin des Innenministeriums verwies in ihrer Stellungnahme auf den Lagebericht zum Jahr 2021, der rund 88.600 Übergriffe auf Polizeibeamte erfasste. Von den bekannten Tätern seien 84 Prozent männlich und 70 Prozent deutsche Staatsbürger, so die Sprecherin.
Vor allem in Großstädten könnte "Ghettoisierung und Perspektivlosigkeit" Gewaltbereitschaft fördern, meint der FDP-Politiker Kuhle. Deshalb halte er es für richtig, sich mit Fragen von Sozialstrukturen und Stadtplanung auseinanderzusetzen. Man müsse in sozialen Medien, Schulen und Integrationskursen Gegennarrative zu veralteten Männlichkeits- und Erziehungsbildern vermitteln, betont der Psychologe Mansour. Es müsse klar sein, dass diese Gesellschaft Angriffe auf Polizei und Rettungskräfte absolut ablehnt.
Quelle: ntv.de