Vortrag an Humboldt-Uni Darum geht es bei der Geschlechter-Kontroverse
14.07.2022, 12:25 Uhr Artikel anhören
Gegen den Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht formierte sich an der HU Berlin Protest.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Streichung eines Vortrags über Geschlecht und Gender an der Berliner Humboldt-Universität (HU) hat Anfang Juli eine hitzige Debatte ausgelöst. Heute wird der Vortrag nachgeholt. Anschließend plant die Uni eine Diskussion, unter anderem mit Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger. Dabei soll es laut Ankündigung allerdings nicht per se um eine Auseinandersetzung mit dem Vortrags-Thema gehen, sondern um die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit an Universitäten im Allgemeinen. Doch worum geht es eigentlich bei der Kontroverse?
Der abgesagte Vortrag
Der Vortrag "Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt" der Biologin Marie-Luise Vollbrecht war für die Lange Nacht der Wissenschaften an der Humboldt-Universität geplant. Nach einem Protestaufruf des "Arbeitskreises kritischer Jurist*innen", einer studentischen Gruppe an der Uni, sagte die Hochschule die Präsentation ab und nannte als Begründung Sicherheitsbedenken. Vollbrecht hielt sie stattdessen auf Youtube. In der "Zeit" beschrieb sie ihre zentrale These: "Das biologische Geschlecht des Menschen ist binär, es gibt männliche und es gibt weibliche Menschen. Wir werden männlich oder weiblich geboren und behalten unsere geschlechtliche Zugehörigkeit bis zum Ende des Lebens."
Die Vortragende
Die 32-jährige Doktorandin, die zu Gehirnzellen elektrischer Fische forscht, wurde Anfang Juni als Co-Autorin eines Beitrags in der "Welt" unter dem Titel "Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren" bekannt. Die Autorinnen und Autoren schreiben, die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ziele "darauf ab, den Forderungen von Trans-Lobbygruppen Gehör zu verschaffen, denen zufolge man das biologische Geschlecht wechseln könne". Das sei eine "bedrohliche Entwicklung": "Es kann nicht angehen, dass eine kleine Anzahl von Aktivisten mit ihrer 'woken' Trans-Ideologie den ÖRR unterwandert", hieß es im Text. Kinder würden dahingehend "indoktriniert" und "aufdringlich sexualisiert".
Die Kritik
Der "Welt"-Beitrag löste heftige Reaktionen aus, die bei der Debatte über Vollbrechts Vortrag eine Rolle spielen. Fast alle Autorinnen und Autoren des Textes waren bereits im Vorfeld des Beitrags öffentlich als transkritisch in Erscheinung getreten. Das Portal "Übermedien" nennt sie das "Who's Who der deutschen Gegnerschaft von Trans-Identitäten". Bei Transgeschlechtlichkeit geht es darum, dass sich eine Person nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifiziert.
Die HU-Studierendenvertretung, der sogenannte Referent*innenRat (eine Art Allgemeiner Studierendenausschuss, kurz AStA), beklagt in einer Stellungnahme zu dem Vortrag die Diskriminierung von "trans*, inter* und *nichtbinären Personen (kurz TIN*)" und nennt Vollbrecht eine "offen TIN*-feindliche Person". Vollbrecht solidarisiere sich mit "einer Bewegung, welche die Existenz von TIN*-Personen leugnet". Sie stehe den "Trans Exclusionary Feminists (TERFS)" nahe, die sich unter anderem gegen den Zugang von Transpersonen zu Räumen für Frauen wenden. Vollbrecht sagte dazu t-online: "Wenn ich als Frau sage, dass ich nicht in der Situation sein will, dass mir in der Sammelumkleide oder unter der Dusche ein Individuum mit Penis begegnet, dann ist das mein gutes Recht." Aus Sicht ihrer Kritikerinnen und Kritiker stigmatisiert sie damit transgeschlechtliche Menschen, die selbst stark unter Diskriminierung und zum Teil gewalttätigen Anfeindungen leiden, und unterstellt diesen pauschal, potenzielle Gewalttäter zu sein.
Die Kritik an der Kritik
Nach der Absage des Vortrags wurde vor allem die Humboldt-Universität scharf angegriffen. Diese habe der Wissenschaftsfreiheit einen Bärendienst erwiesen, sagte der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, Anfang Juli. "Wissenschaft lebt von Freiheit und Debatte", sagte Wissenschaftsministerin Stark-Watzinger der "Bild"-Zeitung. "Das müssen alle aushalten." Ein Kommentar der "Welt" sprach von einem "krassen Fall von Cancel Culture". Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb: "Es ist die Haus- und Hofideologie der Universitäten, die in Berlin nach außen getreten ist: Geschlecht ist nicht mehr als ein soziales Konstrukt."
Der wissenschaftliche Diskurs
Vollbrecht selbst äußerte Verständnis für Sicherheitsbedenken der Uni, schrieb aber in der "Zeit" auch: "Biologen, die versuchen, über Zweigeschlechtlichkeit aufzuklären", würden "inzwischen offen und regelmäßig angefeindet. Die Frage nach Geschlecht und die biologische Zweigeschlechtlichkeit ist längst zu einem Kriegsschauplatz des Kulturkampfs geworden." Die Biologin beruft sich auf rein wissenschaftliche Erkenntnisse.
Das tun aber auch ihre Kritiker. So schreibt der Referent*innenRat: "Die Wissenschaftsfreiheit ist kein Mantel für die Verbreitung von menschenverachtenden Ideologien und gegen Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse gerichteter Propaganda - die Erde ist keine Scheibe, die Evolution ist kein Verschwörungsmythos und die Unterschiedlichkeit von Menschen hat mehr als zwei Seiten."
In der Wissenschaft wird tatsächlich schon seit Jahrzehnten die von einigen Biologinnen und Biologen terminierte Zweigeschlechtlichkeit diskutiert. So gab es gerade in Bezug auf intergeschlechtliche Menschen lange Zeit einen "blinden Fleck" in der Wissenschaft, wie es der "Standard" beschreibt. Inter-Personen weisen Geschlechtsmerkmale auf, die sich nicht in eine Kategorie männlich oder weiblich einordnen lassen. Dabei geht es nicht nur um Geschlechtsorgane, sondern auch die Produktion von Hormonen oder den Chromosomensatz, wie das Bundesfamilienministerium auf seinem "Regenbogenportal" erläutert.
Grundsätzlich ist es so, dass die geschlechtliche Entwicklung vielfältig verlaufen kann. Auf der Wissenschaftsseite "spektrum.de" wird es so ausgedrückt: "Die Kategorien Mann und Frau bilden eine Art Rahmen, innerhalb dessen vielfältige Ausprägungen von Geschlechtlichkeit möglich sind - sowohl genetisch, anatomisch und hormonell als auch psychologisch und sozial."
Bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes heißt es dazu: "Das in der Gesellschaft verankerte binäre Geschlechtsmodell, das ausschließlich männlich und weiblich kennt, benachteiligt Menschen, die sich nicht eindeutig geschlechtlich verorten können oder wollen, und stellt deren Existenz infrage." Und weiter: "Es führt zur Ausgrenzung derjenigen Menschen, deren Geschlecht, Geschlechtsidentität oder Geschlechtsausdruck nicht den sozialen Erwartungen entspricht, und hindert sie an der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit."
Bereits 2012 regte der deutsche Ethikrat an, angesichts des wissenschaftlichen Forschungsstandes den Geschlechtseintrag im Personenstandsrecht zu erweitern. 2017 beschloss das Bundesverfassungsgericht, dass die bis dato gängige Praxis einer Einordnung in "männlich" oder "weiblich" Menschen in ihren Grundrechten verletze, die sich dauerhaft weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen lassen. Ende 2018 wurde schließlich der Geschlechtseintrag "divers" eingeführt.
Quelle: ntv.de, fzö/dpa