Panorama

"Ab nach Kassel" "Documenta-Stadt" mit Imageproblem

Die Schlagzeile traf die Nordhessen ins Mark: "Alex soll bald wie Kassel aussehen", druckte eine Berliner Boulevardzeitung im April in Riesenlettern. Kein nüchterner Vergleich sollte das sein, sondern eine Warnung an die Berliner vor einem Umbau des Alexanderplatzes. Der würde bald "nicht nach Weltstadt, eher nach Kassel" aussehen. Ein Tiefschlag, der belegt: Die documenta- Stadt Kassel hat ein Imageproblem.

"Die documenta dauert bis zum 23. September. Danach werden die Kunstwerke abgebaut und diesmal, das ist neu, auch Kassel", frotzelte Entertainer Harald Schmidt. Ein Scherz - der nur funktioniert, wenn es um das Bild der Stadt nicht gut bestellt ist. Reihenweise landet Kassel in Imageranglisten hinten, und der Ruf "Ab nach Kassel" - einst auf den in Schloss Wilhelmshöhe einsitzenden Napoleon III. gemünzt - wird gern denen nachgerufen, die in die Stadt ziehen wollen oder müssen. Ein Hamburger Kulturmagazin sah sogar "nur trostlose Provinz" und fragte "wenn man in der Kasseler Innenstadt nicht depressiv wird, wo denn überhaupt?". Und Karikaturist Tetsche ließ Gevatter Tod samt Sense ins Death Valley marschieren ("Geil. Verdammt tot hier."). Im Bild ein Wegweiser: "Kassel 2 km".

"Unsere Stadt wird in der Tat nicht so gesehen, wie sie wirklich ist", bekennt auch Oberbürgermeister Bertram Hilgen (SPD). Dabei habe die Metropole - 200.000 Einwohner in der Stadt, 250.000 im direkten Umland - einiges zu bieten: "Mehr als ein Fünftel Wald, zehn Prozent Erholungsgebiete und ein Kulturprogramm, das uns erst einmal eine Stadt dieser Größe nachmachen soll." Gut 1000 Veranstaltungen im Jahr - die documenta nicht mitgerechnet.

Ohne Frage hat Kassel Probleme. Die einst märchenhaft schöne Stadt wurde im Oktober 1943 von Bomben zu 80 Prozent zerstört und dann "modern und autogerecht", aber gesichtslos wieder aufgebaut. Kassel hat eine der höchsten Hartz-IV-Quoten und noch immer die "rote Welle" im Stadtverkehr. "Hinzu kommt die Geschichte", ergänzt Hessen Ministerpräsident Roland Koch (CDU), der selbst einen Teil seiner Jugend in Kassel verbrachte. "Vier Jahrzehnte Randlage zur innerdeutschen Grenze haben die Region hart getroffen."

Jetzt liegt Kassel genau in der Mitte Deutschlands und Europas. Wenige Städte dieser Größe sind so gut an das Verkehrsnetz angebunden. Die Natur um die Stadt herum sucht ihresgleichen, und die Karlsaue direkt in der Stadt ist fast so groß wie das Fürstentum Monaco. Eine Museumslandschaft dieser Größe findet man erst wieder in deutlich größeren Städten, mehr Rembrandt-Originale erst wieder in Holland. "Aber das alles muss sich erst herumsprechen. Vorurteile sitzen tief", sagt Koch und Hilgen räumt ein: "Die Eigenwerbung wurde vernachlässigt."

"Die Situation ist weit besser als der Ruf", konstatiert Helmut Reitze, Intendant des Hessischen Rundfunks und bekennender Kasseler. "Das Imageproblem ist auch ein journalistisches: Irgendwann schreibt einer mal überheblich vom Kaff, und dann schreibt es jeder so lange vom anderen ab, bis es in den Köpfen drin ist." Viele Dinge, für die sich Frankfurt stolz brüste, gebe es in Kassel auch, "aber da wird es nicht bemerkt". Reitze räumt ein, dass die Nordhessen da allerdings nicht ganz unschuldig sind: "Während andere stolz ihre Stadt präsentieren, ziehen sich die Kasseler eher still zurück. An Selbstvertrauen mangelt es wirklich, wenn auch ohne Grund."

"Mit der Schönheit der Altstadt ist 1943 auch das Selbstbewusstsein weggebombt worden", sagt ProSiebenSat.1-Vorstand Hubertus Meyer-Burckhardt, vor 51 Jahren in Kassel geboren. "Und nach den Bomben kamen die Architekten." Alles sei dem Progress geopfert, ganze Fachwerkstraßen wegrasiert worden. Aber längst seien viele Fehler beseitigt und in Kassel grüne oder bunte Ecken entstanden, die man sonst nur in weit größeren Städten finde.

Koch und Hilgen wünschen sich mehr Selbstwertgefühl der Kasseler. Der Ministerpräsident verweist auf blühende Konjunkturzahlen, der Oberbürgermeister will vor allem die Vermarktung der Stadt verbessern und Meyer-Burckhardt vertraut "städtischen Zyklen": "Rom war im Mittelalter auch nur drittrangig. Kassel kommt wieder."

Quelle: ntv.de, Chris Melzer, dpa

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