Panorama

Lehren aus einer FlutkatastropheGrimma zeigt, wie Hochwasserschutz geht

30.08.2021, 18:29 Uhr
imageVon Kevin Schulte
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Die Hochwasserschutzanlage wurde in Grimma in die historische Bausubstanz integriert. (Foto: imago images/Dirk Sattler)

In den Flutgebieten im Westen Deutschlands laufen die Aufräumarbeiten, der Wiederaufbau wird aber noch Monate, wenn nicht Jahre dauern. Und er muss so sein, dass man auf künftige Hochwasser vorbereitet ist. Aber wie? Die sächsische Stadt Grimma bietet sich als Vorbild an - mit Schutzanlage und Sirenen.

Vor 19 Jahren, im August 2002, erlebt der Osten Deutschlands seine Jahrhundert-Flutkatastrophe. Starkregen lässt viele Flüsse vor allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt über die Ufer treten. Mit am heftigsten trifft das Hochwasser Grimma. Die sächsische Kreisstadt liegt zwischen Leipzig und Dresden, direkt an der Mulde, einem Nebenfluss der Elbe. "Dort fließen im Schnitt 30 Kubikmeter Wasser pro Sekunde", erklärt Grimmas Oberbürgermeister Matthias Berger im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".

Die Mulde sei schwer mit anderen Flüssen zu vergleichen, sagt Berger. "Es ist weder die Ahr, also kein kleiner Fluss in einem engen Tal, es ist aber auch nicht der Rhein oder die Elbe." Wegen der Nähe zum Erzgebirge habe er im Bereich Grimma aber eine "relativ hohe Fließgeschwindigkeit". Im schlimmsten Fall könne die Flut in acht Stunden in der Stadt sein, wenn es im Erzgebirge "eine extreme Abregnung gibt", erklärt Berger. "Das wird nie eintreten, das ist eher ein theoretischer Fall. Auch wir haben 12, vielleicht 24 Stunden, um uns auf ein Hochwasser, welches dann die Mulde runterkommt, vorzubereiten."

2002 erlebt Grimma sein Jahrhunderthochwasser

Matthias Berger ist bereits seit 2001 parteiloser Oberbürgermeister der sächsischen Kleinstadt, war also schon beim Jahrhunderthochwasser 2002 Stadtoberhaupt. Damals war es extrem trocken im Sommer, die Mulde führte kaum Wasser. Doch dann kam der Starkregen. Eineinhalb Tage später lag der Pegelstand statt bei wenigen Zentimetern bei 8,30 Meter. An den trockenen Tagen sind damals 10 Kubikmeter Wasser pro Sekunde durch das Flussbett der Mulde geflossen - "eineinhalb Tage später war es fast das 300-Fache", erinnert sich Berger.

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Matthias Berger, Oberbürgermeister der Stadt Grimma. (Foto: Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/dpa)

Bei der Flut ist damals nur ein Mensch gestorben, aber Grimma wurde stark zerstört. Die Wiedervereinigung lag erst zwölf Jahre zurück, die 30.000-Einwohner-Stadt war baulich in einem schlechten Zustand. Manche Häuser waren nicht verputzt, viele Straßen nur gepflastert. "Das war bauphysikalisch ein Problem, weil die Strömung hier schon heftig war. Wir hatten Straßenzüge, die waren auf einer Länge von 100 Metern drei Meter tief ausgerissen. In der Summe hatten wir 45 komplett zerstörte Häuser, 3300 betroffene Bürger und einen Gesamtschaden von 250 Millionen Euro."

Matthias Berger erinnert sich gut an die schweren Schäden. Die seien schlimmer gewesen als nach dem Zweiten Weltkrieg, sagt er. Für ihn habe sich eine Woche lang die Frage gestellt, ob die Stadt überhaupt wieder aufgebaut werden kann. Aber dann gab es ähnlich wie heute im Ahrtal eine große Welle an Helfern.

Aufmerksamkeit hat Grimma geholfen

Auch Matthias Berger hat nach der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2002 einfach angepackt. Und vor allem für Aufmerksamkeit gesorgt. Grimma war damals häufig in den Medien. Besonders eindrücklich war der Besuch des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, der sich in grüner Regenjacke und gelben Gummistiefeln die Flutschäden zeigen ließ. Diese Bilder hätten Grimma geholfen, sagt der parteilose Oberbürgermeister 19 Jahre später.

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Nach der Flut 2002: Matthias Berger mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt. (Foto: imago/Eckehard Schulz)

Zum Beispiel bei den zuständigen Behörden. Das sächsische Umweltministerium entschied sich nach der Katastrophe, den Hochwasserschutz im Freistaat neu zu ordnen. Und weil für Grimma das höchste Schadenspotenzial errechnet wurde, bekam die Stadt eine Hochwasserschutzanlage genehmigt. "Dann haben wir eine Arbeitsgruppe gegründet. Und da muss ich sagen, das war sensationell. Das Planfeststellungsverfahren hat nicht mal ein Jahr gedauert. 2007 war dann Baubeginn", berichtet Berger.

Ursprünglich sollte die Anlage bereits 2012 fertig sein, der Termin war jedoch nicht zu halten. "Die Anlage ist 2,2 Kilometer lang, besteht aus einer Mauer, die 15 Meter tief unter der Erde ist und ansonsten in die historische Bausubstanz über der Erde integriert ist. Das ist Hightech und die Bohrung im unteren Bereich war unglaublich schwierig", erklärt der Politiker die Verzögerung.

2019 wurde die hochmoderne Anlage schließlich fertig, sechs Jahre zu spät, weil Grimma das Hochwasser 2013 noch ungeschützt erleben musste. Die damalige Flut war fast genauso heftig wie 2002. Der Pegel stand nur einen Meter niedriger als elf Jahre zuvor, pro Sekunde liefen 2000 Kubikmeter Wasser durch die Mulde. Doch die Schäden sind geringer ausgefallen, weil die Stadt besser vorbereitet war. Die Bausubstanz war eine andere, es gab insgesamt weniger Angriffsfläche. Außerdem habe man die Menschen per Sirene und SMS rechtzeitig gewarnt, blickt der Oberbürgermeister zurück. Einen Todesfall habe es nicht gegeben. Und mit den Erfahrungen von 2002 sei Grimma schon innerhalb von fünf Tagen aufgeräumt worden.

Einmal im Monat Sirenen-Probealarm

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Für das nächste Katastrophen-Wetter ist die sächsische Stadt dann noch viel besser gerüstet - dank der Hochwasserschutzanlage. "Es gibt 78 Verschlusselemente. Das sind alles Unikate. Das größte Tor ist sieben Meter mal vier Meter. Das Kleinste ist so groß wie ein großes Buch. Wir brauchen 80 Feuerwehr-Kameradinnen und -Kameraden, dann ist das Ding in eineinhalb bis zwei Stunden komplett zu", erklärt Oberbürgermeister Berger. Jedes Jahr im Mai vor Beginn der Hochwasser-Saison wird in Grimma eine Übung abgehalten. "Da werden sämtliche Verschlusselemente einmal zugemacht, wieder aufgemacht und dann direkt gewartet von der zuständigen Talsperrenverwaltung."

Die Hochwasserschutzanlage ist so hoch, dass die Stadt bei einem Hochwasser wie 2013 nicht mehr überflutet würde. Bei einer Flut wie 2002 würde die Mauer zwar 90 Zentimeter überlaufen, aber die Schäden wären viel geringer. Allein schon, weil das Wasser durch die Anlage einigermaßen kontrolliert in die Stadt strömen würde.

Aber nicht nur die Hochwasserschutzanlage wird regelmäßig getestet, sondern auch der Sirenenalarm, der bei der Flutkatastrophe im Westen Deutschlands in vielen Fällen ausgeblieben ist. In Grimma sind Sirenen kein Relikt aus dem Krieg, sondern hörbarer Alltag. "Es gibt einmal unseren Sirenenalarm und einmal von der Rettungsleitstelle", sagt Berger. "Unsere Hightech-Sirenen werden jeden dritten Mittwoch um 15 Uhr getestet. Der Ton geht durch Mark und Bein, dann kommt ein Gong und nach zehn Sekunden die entsprechende Durchsage."

"Sirenen abgeschafft aus Sinnlos-Gründen"

Im ganzen Land wurden nach der Deutschen Einheit 40.000 Sirenen in Städten und Gemeinden abgebaut, weil man sie für nicht mehr zeitgemäß hielt. In manchen Kommunen gibt es teilweise gar keine Sirenen mehr. Das sei "ein Beispiel dafür, dass wir uns als Staat wieder selbst im Weg stehen", meint der Oberbürgermeister. Er fordert, den Kommunen "mehr Luft zu lassen". Man wisse schon, wie es geht. "So eine Sirene ist ein simples Ding. Teilweise hatten wir die noch nach der Wende, die wurden aber abgeschafft aus irgendwelchen Sinnlos-Gründen. Wir haben sie behalten, haben immer darauf gesetzt. Und es geht auch nicht darum, den Leuten jetzt millimetergenau den Wasserstand zu vermitteln. Die Leute hören die Sirene und sind dann klug genug, in den Himmel zu schauen, ob ein Flugzeug abstürzt, ob irgendetwas brennt oder ob eben das Wasser kommt."

Kann die Stadt Grimma ein Vorbild sein für die Flutregionen im Westen Deutschlands? Es stehe ihm nicht zu, irgendwelche Ratschläge zu geben, aber er lade jeden ein, sich anzuschauen, wie es Grimma gemacht hat, sagt Berger. Natürlich müsse der Weg Grimmas nicht der einzig richtige sein.

Trotzdem hat die Stadt nach der Katastrophe von 2002 auf jeden Fall wichtige Erfahrungen gesammelt und elf Jahre später bereits bewiesen, dass Vorkehrungen helfen - mit der hochmodernen Schutzanlage ist man künftig aber noch viel besser geschützt.

Quelle: ntv.de

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