Hungrig, arm, unsichtbar In Las Vegas' geheimen Tunneln bröckelt die Glitzer-Fassade
11.02.2024, 07:52 Uhr Artikel anhören
Die geheime Stadt unter der Glücksspiel-Metropole Las Vegas erstreckt sich über ein langes Tunnelsystem.
(Foto: imago/ZUMA Press)
Abseits von Glitzer-Casinos und verruchten Partys herrscht eine trostlose Realität in Las Vegas: Tausende Menschen sind obdachlos und leiden an Hunger. Sie werden verdrängt, auch wegen des Super Bowls - und leben in einer geheimen Stadt unter der Glücksspiel-Metropole.
Las Vegas. Stadt des Glücksspiels und der Sünde. Glitzernde Hotels, verruchte Partys und schillernde Casinos treffen auf Reichtum, Extravaganz und Glamour. So steht es im Reiseführer, so erleben es die Touristen. In der sogenannten "Fremont Street Experience" ist die Realität tatsächlich exakt so. Mehr Kommerz, mehr Neon geht nicht: Die Mall erstreckt sich über mehrere Blocks in Downtown Las Vegas und blinkt und funkelt, wie und wo es nur irgend geht.
Grelle Lichter und LED-Bildschirme bilden eine gewölbte Decke. Darunter herrscht Super-Bowl-Ausnahmezustand: Musikerinnen rocken leicht bekleidet, Football-Fans geben sich am Tag vor dem großen Spiel in bunten NFL-Trikots die Kante und lassen die Selfiesticks tanzen. Alles ist riesig, protzig, luxuriös. Touristen gleiten an Seilen hoch unter der Decke längs durch die Kommerzmeile.
Doch immer wieder kommt es mitten in den jauchzenden Massen zu krassen Kontrast-Momenten. Denn vereinzelt schlurfen Obdachlose mit Sack und Pack herum, zerteilen die Massen wie von Geisterhand. Sie werden umkurvt und nicht beachtet. Wenige Meter von der "Experience" entfernt liegen am Straßenrand weitere Menschen, in verdreckten Klamotten und ohne Zuhause. Mehr Gegensatz zum Luxus geht nicht.
Zelte an der Autobahnunterführung
Die Zahl der Obdachlosen in Las Vegas liegt bei 15.000 bis 20.000. Jährlich werden es mehr. "Es gibt allerlei Gründe dafür, dass Menschen sich auf der Straße wiederfinden und darum kämpfen, über die Runden zu kommen", sagt Mike Bodine, Geschäftsführer der Lebensmittelhilfsorganisation "Hope for the City" aus Las Vegas, im Gespräch mit ntv.de. "Manchmal sind es die Lebenshaltungskosten, die in den USA in den letzten drei Jahren für eine Durchschnittsfamilie um 17 Prozent gestiegen sind. Einer hat seinen Job verloren und war nicht in der Lage, eine neue Stelle zu finden, deshalb wurde er zwangsgeräumt. Ein anderer hat mit irgendeiner Art von Sucht zu kämpfen, Drogensucht oder Alkoholsucht etwa, und befindet sich nun in einem Teufelskreis."
Bodins Non-Profit-Organisation versorgte während der Pandemie in Las Vegas knapp anderthalb Millionen Menschen mit Nahrung, half seit 2020 über 300.000 Haushalten und richtete 1000 Pop-up-Nahrungsmittellager in der Stadt ein. Noch immer verteilt "Hope for the City" jede Woche Lebensmittel an über 1000 bedürftige Familien. Tun Stadt und Landkreis nicht genug? Bürgermeisterin Carolyn Goodman teilte auf eine Anfrage von ntv.de zu den Gründen von und Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit und Hunger mit, dass sie in der Super-Bowl-Woche nicht zur Verfügung stehe.
In der Innenstadt kommt die absurde Kombination von Reichtum und Leid zustande, weil rund fünf Gehminuten von der Kommerzmeile die Las Vegas Rescue Mission liegt, einer der wichtigsten Anlaufpunkte für Obdachlose und Hungerleidende in Las Vegas. Trotz der geografischen Nähe sind Super Bowl, Glitzer und Trubel hier ganz weit weg. Abgesehen von wenigen Obdachlosen ist hier niemand auf der Straße unterwegs. Die schneebedeckten Berge in der Ferne könnten fast für einen malerischen Moment sorgen, wenn nicht die Armut allgegenwärtig wäre. Der Weg führt an einer Schnellstraße entlang durch eine verwahrloste Autobahnunterführung. Heruntergekommene Zelte und Matratzen am Straßenrand dienen als Schlafplätze.
"Diese Menschen fühlen sich vergessen"
Ein großes Kreuz kündigt die Mission an: "Jesus Saves", steht dort. Morgens und mittags kann man sich hier registrieren und bekommt Verpflegung und einen Unterschlupf. Einige wohnen auch für längere Zeit in der Unterkunft. An diesem Samstag kommen etwa 50 Leute, bekommen am Eingang erst mal ein Wasser in die Hand gedrückt. Es sind auffällig viele Familien mit Kindern dabei. Mit der Presse aus dem Ausland reden will niemand. Einige sind schüchtern oder benebelt, andere kämpfen mutmaßlich mit psychischen Problemen. 500 Meter weiter preist ein überdimensionales Billboard eines schicken Hotels Steak und Hummer an.
"Wenn man all die Exzesse in Vegas sieht, könnte man meinen, dass es dort allen gut gehen muss", sagt Bodine von "Hope for the City". "Als ob jede Person alle Lebensmittel, Ressourcen und Kleidung hätte, die sie benötigt. Und doch gibt es eine große Gruppe von Menschen, die ohne zu Hause ist oder sich abmüht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Weil sich die Stadt größtenteils darauf konzentriert, die Bedürfnisse derjenigen zu erfüllen, die als Touristen nach Vegas kommen, fühlen diese Menschen sich oft vergessen."
Unsichtbar, im Stich gelassen und vergessen. Dass es in der Stadt keine riesigen Zeltstädte wie etwa in Los Angeles gibt, hat einen Grund: Es existiert ein zweites Las Vegas. Eine geheime Stadt unter der Luxus-Metropole. In Abwassertunneln tief unter der Erde leben die meisten Obdachlosen. Auch, weil Las Vegas schon lange versucht, die Straßen für die vielen Touristen "sauber" zu halten. Auf dem weltberühmten Casino-Strip südlich von Downtown sind Obdachlose längst verdrängt worden. In den Tunneln aber stören weder die Polizei noch der Vermieter.
Die geheime Stadt unter Las Vegas
Das Tunnelnetz soll insgesamt etwa 500 Kilometer umfassen, gebaut wurde es in den 1970ern, um die Stadt in der Wüste bei katastrophalen Regenstürmen zu schützen. Hier spielt der Super Bowl keine Rolle. Hier herrschen ganz andere Probleme. Ein Besuch wäre ein Eingriff in die Privatsphäre der dort lebenden Menschen und ohne intensive Vorarbeit und Absprachen sehr gefährlich. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die den "Unsichtbaren" dort Essen, Hilfsmittel und emotionale Unterstützung bringen, berichten ntv.de aber vom Leben im Untergrund.
Seit Jahrzehnten leben dort verschiedenste Menschen: Drogenabhängige, Kriminelle, aber auch Veteranen, Menschen, die ihre Wohnungen nicht länger bezahlen konnten, und Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen. Hinzu kommen Glücksspielopfer aus den gesamten USA, die ihr Geld an den Roulette- oder Blackjack-Tischen verspielt haben. Manch einer entscheidet sich freiwillig hinunterzuziehen, um ungestört von der Regierung und abseits von einer Gesellschaft zu leben, von der er nichts mehr erwarten und die ihm nichts bieten kann. Aber niemand weiß genau, wer und wie viele in den Tunneln hausen.

Ein Obdachloser in Downtown Las Vegas wenige Meter vom Glitzerparadies entfernt.
(Foto: David Bedürftig)
Die Zustände dort unten sind miserabel. Die Menschen wohnen in Zelten oder Holzverschlägen und schlafen auf Matratzen oder Pappbetten. Fast überall ist es stockdunkel und nass, Krankheiten verbreiten sich schnell und es wimmelt vor Insekten. Im Winter sorgt der Beton für Kälte, im Sommer herrscht erdrückende Hitze. Hinzu kommt: Es gibt kein fließendes Wasser, keine Duschen oder Toiletten. Strom wird manchmal mit Autobatterien erzeugt. Doch es gibt genug Platz für alle und eine Art Gemeinschaft mit Frieden und Freiheit. "Warum sollten sie umziehen und irgendwo wohnen, wo sie nicht überleben können?", meint ein Hilfsarbeiter.
Eines von sechs Kindern hat nichts zu essen
Seit Las Vegas immer mehr Mega-Events ausrichtet, scheint es mit Frieden und Freiheit aber verstärkt vorbei zu sein. Normalerweise geht die Polizei nicht in die Tunnel, doch rund um das Formel-1-Rennen in der Stadt - und nun auch vor dem Super Bowl - kündigten die Beamten an, Menschen aus ihren Untergrundbehausungen zu entfernen.
"Lieber Gott, wir beten für Essen und Sicherheit in der Stadt, in den USA und auf der ganzen Welt und dass wir Hoffnung an die Ärmsten bringen können." Der Pastor der Central Church in Las Vegas eröffnet mit diesen Worten eine Benefizveranstaltung für Obdachlose und Hungerleidende. "Souper Bowl of Caring" heißt das Event. Ein Suppenwortspiel für Fürsorge. Das ist nötig, weil abseits von Glitzer und Super Bowl nicht nur in den Tunneln und Zelten der Obdachlosen Armut herrscht: Jeden Tag hat eines von sechs Kindern in Nevada nichts zu essen, über 370.000 Menschen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Studien zeigen, dass Kinder, die keinen Zugang zu regelmäßigen Mahlzeiten haben, erhebliche Schwierigkeiten in der Schule und im sozialen Umfeld haben.
"Hunger hat viele Gesichter", sagt Bodine. Es ist seine Lebensmittelhilfsorganisation, die den "Souper Bowl" auf die Beine stellt. Auch die NFL unterstützt das Projekt über ihre Alumni-Organisation. "Manchmal müssen sich die Menschen entscheiden zwischen Lebensmitteln und der Zahlung von Miete und Nebenkosten", erklärt Bodine. Seine Non-Profit-Organisation will die Entscheidungsnot, die von der grassierenden Inflation weiter erschwert wird, eindämmen. "Alleinerziehende Mütter kommen um drei oder vier Uhr morgens zur Essensausgabe und stellen sich in der Schlange an, weil sie es sich nicht leisten können, keine Lebensmittel für ihre Kinder zu bekommen", sagt Bodine.
Hoffnung gegen Hunger
Doch wie schon der Pastor betete, weiß auch Bodine, dass es nicht nur ums Essen geht. "Hoffnung ist eine mächtige Sache", erklärt der Geschäftsführer. "Wenn man Hoffnung für die Zukunft hat, kann man heute überstehen. Und an diesem kommt für Bodine auch der Super Bowl ins Spiel: "Beim Football sehen auch die Ärmsten, wie ein Team oder ein Spieler sich durch Widrigkeiten kämpfen musste und so etwas kann helfen, um sich selbst zu sagen: Okay, ich muss auch weiterkämpfen, weil es eine bessere Zukunft für mich geben könnte."
Deshalb verteile "Hope for the City" auch nicht nur Lebensmittel, sondern hat ein 24-Stunden-Hoffnungstelefon eingerichtet. Dort gibt es Seelsorge und Hilfesuchende werden an die richtige Hilfestelle weitergeleitet. "Dieses Gefühl, dass sie dazugehören und wir für sie und mit ihnen sind, macht oft den ganzen Unterschied aus", sagt Bodine, "und gibt ihnen die Hoffnung, die sie brauchen, um in den nächsten Tag zu gehen."
Vielleicht vereinzelt auch den Unsichtbaren. In den geheimen Tunneln unter der Glitzer-Stadt.
Quelle: ntv.de