Experten haben zunehmend Zweifel Ist Lucy Letby wirklich eine Babymörderin?


Letby, hier auf einer Gerichtszeichnung, beteuerte während der gesamten Ermittlungen ihre Unschuld.
(Foto: picture alliance / empics)
Die Krankenschwester Lucy Letby wird in Großbritannien zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie soll sieben Babys ermordet haben. Doch immer mehr Experten bezweifeln ihre Schuld. Sie warnen davor, strukturelle Mängel zu übersehen, die möglicherweise zum Tod der Kinder geführt haben.
Nach mehreren Prozessen und Berufungsverfahren schien es kaum einen Zweifel zu geben: Lucy Letby ist die schlimmste Kindermörderin der britischen Geschichte. Die Krankenschwester arbeitete auf der Säuglingsstation einer Klinik in Chester. Dort soll sie zwischen Juni 2015 und Juni 2016 sieben Babys ermordet und bei sechs weiteren eine Tötung versucht haben. Sie verbüßt dafür derzeit eine lebenslange Haftstrafe.
Doch trotz dieser Verurteilungen, erst im Juli war Letby schuldig gesprochen worden, im Februar 2016 frühmorgens den Beatmungsschlauch eines Frühchens entfernt zu haben, werden nun immer mehr Zweifel an der Täterschaft der Frau laut. Letby hat die Vorwürfe immer bestritten und erklärt, nie einem Kind Schaden zugefügt zu haben.
In den Prozessen vorgelegte Aufzeichnungen der inzwischen 34-Jährigen schienen aber eine eindeutige Sprache zu sprechen. Die Staatsanwaltschaft betrachtete die dicht beschriebenen Post-its als Geständnis. Letby hatte unter anderem geschrieben: "Ich bin böse, ich habe das getan", "Ich habe sie absichtlich getötet, weil ich nicht gut genug bin, um für sie zu sorgen, und ich bin ein schrecklich böser Mensch" und "Hass".
Geständnis oder Ausdruck von Stress?
Diese meistzitierten Formulierungen sind allerdings nur ein Teil der gefundenen Notizen. Es gibt auch andere. In ihnen schrieb Letby: "Nicht gut genug", "Warum ich?", "Ich habe nichts Unrechtes getan", "Polizeiliche Ermittlungen, Verleumdung, Diskriminierung, Viktimisierung". Diesen Formulierungen wurde jedoch nicht so viel Bedeutung beigemessen wie den vermeintlichen Geständnissen.
Vor allem aber wurde offenbar von falschen Annahmen ausgegangen, wie die Aufzeichnungen überhaupt zustande kamen. Der Fall war ins Rollen geraten, nachdem Kolleginnen und Kollegen Verdachtsmomente gegen Letby geäußert hatten. Dem britischen "Guardian" zufolge hatte die Leiterin für Arbeitsgesundheit und Wohlbefinden des Countess of Chester-Krankenhauses, Kathryn de Beger, Letby daraufhin ermutigt, ihre Gefühle aufzuschreiben, um mit dem extremen Stress fertig zu werden. Auch Letbys Hausarzt in Chester riet ihr demnach, Gedanken aufzuschreiben, die sie nur schwer verarbeiten konnte.
Letby tat, was man ihr geraten hatte, und erwähnte in den Notizen auch ihre Familie, Haustiere und Arbeitskollegen. Zudem schilderte sie wiederholt Selbstmordgedanken: "Ich bringe mich sofort um", "Hilfe", "Verzweiflung, Panik, Angst, Verlorenheit", "Ich fühle mich sehr allein und verängstigt". Die Notizen wurden irgendwann zwischen Juli 2016, nachdem sie entlassen worden war, und ihrer Verhaftung im Juli 2018 geschrieben. In den Prozessen waren keine forensischen Psychologen zu Wort gekommen, um die Aufzeichnungen und ihren Wahrheitsgehalt zu interpretieren.
Der "Guardian" zitiert David Wilson nun mit der Einschätzung, dass die sogenannten Geständnisse "bedeutungslos" seien und keinen Beweiswert hätten. Der Professor für Kriminologie an der Birmingham City University, der sich auf Serienmörder spezialisiert hat, begründet das damit, dass sie im Rahmen einer Beratung geschrieben worden seien. "Viele Menschen sagen Dinge, wenn sie unter Stress stehen und sich verlassen fühlen, die etwas zu implizieren scheinen, aber überhaupt nichts bedeuten, außer dass sie den zugrunde liegenden Stress widerspiegeln."
Sorge um systemische Probleme
Die Zweifel an Letbys Täterschaft haben jedoch noch einen weiteren wichtigen Grund. Indem sich alle auf die Krankenschwester konzentrieren, könnten strukturelle Mängel, die möglicherweise zum Tod der Babys beigetragen haben, unberücksichtigt bleiben. Und das könnte weitere Säuglinge das Leben kosten. Bereits im August 2023, nach der ersten Verurteilung Letbys, wurde die sogenannte Thirlwall-Untersuchung begonnen. Sie hat ihren Namen nach der mit der Untersuchung betrauten Richterin Kathryn Thirlwall.
Am 10. September sollen in Liverpool die Anhörungen dazu beginnen. Dabei stehen Fragen im Mittelpunkt, ob das Verhalten der im Countess of Chester Hospital Beschäftigten angemessen und dazu geeignet war, die Sicherheit der dort betreuten Säuglinge zu gewährleisten. Eine Gruppe von Experten forderte die Regierung jedoch auf, die öffentliche Untersuchung des Falles zu verschieben oder ihre Fragestellungen abzuändern, weil es Bedenken hinsichtlich der Art und Weise gebe, in der Letby im Verfahren Beweismaterial vorgelegt wurde.
Zu der Gruppe gehören einige der führenden britischen Neonatalexperten und Statistikprofessoren. Sie beschreiben sich selbst als "eine vielfältige Gruppe von Ärzten, Krankenschwestern und Wissenschaftlern", die den Fall Letby unabhängig untersucht hätten. Alle betonen, dass sie weder mit Letby oder ihren Anwälten in Verbindung stehen, "noch werden wir von emotionalen Reaktionen auf den Fall getrieben. Unser Ansatz basiert auf wissenschaftlichen Analysen und der Sorge um systemische Probleme im Gesundheits- und Justizsystem."
Neubewertung der Beweise
Die Festlegung auf Letby als Mörderin könne dazu führen, dass "andere, möglicherweise komplexe Todesursachen nicht verstanden und untersucht werden", fürchten die Expertinnen und Experten. "Wir glauben, dass Rechtssysteme besonders anfällig für Fehler sind, wenn es um komplizierte wissenschaftliche Beweise geht, insbesondere in Fällen, in denen es um statistische Anomalien im Gesundheitswesen und die komplexe Physiologie von Neugeborenen geht."
Zuvor war unter anderem bekannt geworden, dass Letby nicht immer, wie angenommen, mit den Neugeborenen allein war, wenn es zu Notfällen kam. Vielmehr waren Daten, die die Abwesenheit oder Rückkehr anderer Mitglieder des Pflegepersonals belegen sollten, fehlerhaft. Auch die Behauptung, dass Letby bei allen Morden und Mordversuchen auf der Neugeborenenstation des Krankenhauses anwesend war, steht inzwischen in Zweifel. Denn es gibt Aussagen, dass es, als Letby nicht anwesend war, sechs weitere Todesfälle auf der Station gegeben habe.
Obwohl bisher zwei Berufungsanträge von Letby abgelehnt wurden, hat die verurteilte Krankenschwester offenbar vor, weitere juristische Schritte zu unternehmen. In dieser Woche engagierte sie Mark McDonald, einen auf Berufungen und Justizirrtümer spezialisierten Anwalt. In der BBC kündigte McDonald an, er habe vor, Letbys Fall vor die Criminal Cases Review Commission zu bringen und zu beantragen, dass er an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird.
Quelle: ntv.de