
Der ökonomische Druck lässt weniger Zeit für Achtsamkeit und Menschlichkeit.
(Foto: picture alliance / Daniel Karman)
Nur selten wird vor deutschen Gerichten gegen Pfleger oder Ärzte verhandelt, die ihre Patienten umgebracht haben. Nicht zufällig oder fehlerhaft wohlgemerkt, sondern absichtlich. Dabei werden die Helfer wahrscheinlich öfter Täter, als bislang angenommen.
"Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?" Diese Frage stellte Karl H. Beine in einem Fragebogen im Herbst 2015 an Ärzte und Pflegepersonal in Krankenhäusern und Pflegeheimen in ganz Deutschland. Der Chefarzt am St. Marien Hospital Hamm und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke ist der deutsche Experte für Tötungsdelikte im Gesundheitswesen. Seine Frage oder vielmehr die Antworten von Ärzten, Krankenschwestern und Altenpflegern darauf sollten Rückschlüsse ermöglichen, wie häufig in Deutschland Patienten von Pflegepersonal getötet werden.
Eineinhalb Jahre später ist Beine sicher: Es sind sehr viel mehr Fälle, als es die bisher gut 10 Strafprozesse vermuten lassen, bei denen es in Deutschland um die Tötung von Patienten ging. Die entscheidende Frage beantworteten gut 3 Prozent der Ärzte und gut 2 Prozent der Alten- und Krankenpfleger mit Ja. Insgesamt füllten 5055 Menschen den gesamten Fragebogen aus. Beine hat diese Zahlen auf das gesamte Pflegepersonal in Krankenhäusern und Pflegeheimen hochgerechnet. Seine Schätzung: In Deutschland sterben in jedem Jahr 21.000 Patienten durch die Menschen, die sie wieder gesund machen oder wenigstens gut versorgen sollen.
Bei der Vorstellung des Buchs, das Beine über seine Untersuchungsergebnisse geschrieben hat, relativiert er diese Zahl allerdings. Man dürfe aus seiner Schätzung nicht auf 21.000 bisher unentdeckte Mord- oder Totschlagsdelikte schließen. Seine Studie sei nicht repräsentativ und die Fragen extra so gestellt worden, dass die Befragten nicht verschreckt würden. Deshalb könne nicht ausgeschlossen werden, dass manch einer sein Handeln während des Sterbeprozesses eines Patienten besonders kritisch beurteilte.
Lehrbuchbeispiel Niels H.
Aber die bislang vertretene Auffassung, dass es sich bei mordenden Pflegern, Ärzten oder Krankenschwestern um Einzelfälle handele, will Beine auch nicht mehr stehen lassen. Er betrachte seine Erhebung als Pilotstudie, die nur einen Schluss zulasse: "Die Einzelfälle sind keine!" Bei der Ursachensuche relativiert Beine seine bisherige Position etwas, die sich hauptsächlich an der Persönlichkeit der Täter orientierte.
Der Krankenpfleger Nils H. beispielsweise, der für fünf Morde verurteilt wurde, handelte aus Langeweile und wollte Anerkennung und Lob. Die bekam er, wenn er Patienten in lebensbedrohliche Zustände brachte und anschließend wiederbelebte. Wenn die Wiederbelebung scheiterte, hatte der Patient leider Pech. H. gilt als Musterbeispiel eines tötenden Pflegers, er ist wahrscheinlich für eine der umfangreichsten Mordserien in Deutschland verantwortlich, könnte bis zu 200 Menschen auf dem Gewissen haben. Kollegen war die hohe Sterbequote auch aufgefallen, ebenso wie H.s zunehmend verrohende Sprache im Umgang mit den Patienten.
An dieser Stelle kommen nun Beines weitere Überlegungen ins Spiel. Die These des Mediziners: Je mehr Profit, Apparate und Pharmazeutika im Mittelpunkt des Gesundheitssystems stehen, umso größer wird die Gefahr für Patiententötungen. Gestresste und unzufriedene Pfleger und Ärzte neigen eher zu Behandlungsfehlern und übersehen eben auch geflissentlich deutliche Alarmsignale. Der zunehmende ökonomische Druck schaffe Umstände, die es erschweren, Verhaltensabweichungen bei Kolleginnen oder Kollegen zu bemerken.
Ökonomie hat gewonnen
So bleibe es nicht bei einer Tötung, sondern es entwickeln sich Serien mit unter Umständen zahlreichen Opfern. Hätte bereits das erste Krankenhaus, in dem Nils H. auffiel, konsequent gehandelt, könnten viele seiner Opfer noch leben. Aus Sorge um den Ruf der Klinik wurde dem hochproblematischen Mitarbeiter jedoch ein gutes Zeugnis ausgestellt, mit dem er sein Berufsleben und das Morden fortsetzen konnte. Zudem habe man immer über H. gesprochen, nie aber mit ihm, geschweige denn, dass in Teamkonferenzen thematisiert wurde, dass immer weniger Kollegen mit dem "Rettungs-Rambo" arbeiten wollten.
Gelegen kam dem System auch, dass H. mit einem billigen Medikament mordete. Während die Vergabe hochpreisiger Wirkstoffe genau überwacht wird, um die Kosten im Zaum zu halten, konnte H. seinen Patienten Überdosen Gilurytmal verabreichen, ohne dass die Steigerung um das Siebenfache eine Kontrollinstanz auf den Plan rief.
Beine hat sein Buch "Tatort Krankenhaus" genannt, Untertitel: "Wie ein kaputtes System Misshandlungen und Morde an Kranken fördert". Dafür muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, ein sensibles Thema reißerisch zu verkaufen. In Berlin verteidigt er sich. "Jemand, der gehört werden will, muss die Stimme anheben." Unmittelbar danach beklagt er, dass im Gesundheitswesen die Machtfrage zugunsten der Ökonomie entschieden wurde und wirbt für eine bessere Balance zwischen Medizin und Pflege auf der einen und Kostenpauschalen und Fallkennziffern auf der anderen Seite. Beine will mehr Aufklärung, Achtsamkeit und Austausch, um künftige Patiententötungen zu verhindern, egal ob es eine oder 21.000 sind.
Quelle: ntv.de