Teenager bei Hannover attackiert Mordprozess gegen Mädchen fordert Richter heraus


Wer den Fall um die zwei angeklagten Mädchen am Landgericht Hannover verfolgen möchte, stößt vor dem Gerichtssaal auf dieses Schild. Da die mutmaßlichen Täterinnen minderjährig sind, wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt.
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Kriminelle Jugendliche sind eine große Herausforderung für die Justiz. Dies wird derzeit auch am Landgericht Hannover deutlich: Zwei Jugendliche müssen sich dort wegen versuchten Mordes verantworten. Im Fokus ihres Prozesses steht jedoch nicht nur die Suche nach einer gerechten Strafe.
Es ging um ein Smartphone. Für rund 1000 Euro, vielleicht weniger, hätten es zwei 15-jährige Mädchen in Kauf genommen, das Leben einer 14-Jährigen zu beenden. Die Teenager waren fest entschlossen, das Mädchen zu töten, um an ihr Mobiltelefon zu gelangen, heißt es in der Anklage vor dem Landgericht Hannover. Hier sitzen die beiden Jugendlichen wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit räuberischer Erpressung auf der Anklagebank.
Der erschreckende Fall geschah im niedersächsischen Barsinghausen. In der 30.000-Einwohner-Gemeinde nahe Hannover heißen die Restaurants "Waldwirtschaft Bärenhöhle" und "Gasthaus zum grünen Jäger". Es gibt viele Spielplätze und Einfamilienhäuser sowie einen Ortskern mit S-Bahn-Anbindung an die Landeshauptstadt. Dort, am Bahnhof in Barsinghausen, sind die drei Mädchen in der Nacht zum 30. Oktober des vergangenen Jahres unterwegs. Es ist kurz nach Mitternacht, als sie ein Parkhaus betreten. Dann eskaliert die Situation.
Die beiden 15-Jährigen schlagen auf das ein Jahr jüngere Mädchen ein, packen es an der Schulter und versuchen, es über die Brüstung des Parkhauses zu schubsen. Die Fallhöhe am Ort des Kampfes beträgt etwa fünf Meter. Doch das Mädchen stürzt nicht. Die 14-Jährige schafft es, sich festzuhalten, flieht und versteckt sich ganz in der Nähe. Für die beiden wütenden Jugendlichen ist dies jedoch offenbar kein Grund, von ihr abzulassen. Im Gegenteil.
Sie machen sich auf die Suche nach ihrem Opfer, fragen sogar einen Passanten nach der 14-Jährigen. Dabei geben sie sich als ihre Schwestern aus. Schließlich wird die zunächst Entkommene erneut überwältigt und geschlagen - bis sie ihr Smartphone rausrückt.
Erziehung statt Strafe
Nun, rund ein halbes Jahr später, müssen sich die Mädchen, inzwischen 15 und 16 Jahre alt, vor den Richtern in Hannover für den brutalen Angriff verantworten. Die Öffentlichkeit darf an diesem Prozess, der bereits am 17. April startete, nicht teilnehmen, zu schwer wiegt das Persönlichkeitsrecht der Minderjährigen. "Das Gesetz sieht vor, dass Verhandlungen gegen Jugendliche, das heißt Personen zwischen 14 und 16 Jahren, nicht öffentlich stattfinden", sagt Gerichtssprecherin Annika Osterloh auf Anfrage von RTL/ntv. "Das gilt auch für die Verkündung einer Entscheidung." Hinter verschlossenen Türen wird also entschieden, welche Konsequenzen diese Nacht im Oktober - der Überlebenskampf einer 14-Jährigen - für die beiden Mädchen hat.
Wären die beiden Angeklagten erwachsen, würde ihnen allein für den Mordversuch eine lebenslange Freiheitsstrafe drohen. Im Jugendstrafrecht sieht dies anders aus - die Höchststrafe beträgt fünf, im Falle eines Verbrechens zehn Jahre. Der Grund dafür klingt zunächst simpel: Im Jugendstrafrecht geht es nicht um Strafe, sondern um Erziehung. "Die Idee dahinter ist, dass die Jugendlichen aus ihrem Fehlverhalten lernen", erklärt Strafverteidigerin Manon Heindorf, Fachanwältin für Strafrecht, im Gespräch mit ntv.de. Dies gelinge kaum, wenn der Staat die jungen Menschen einfach wegsperren würde. Vielmehr gilt es, "erzieherisch und pädagogisch" auf die Jugendlichen einzuwirken.
Einen fixen Strafrahmen gibt es daher nicht, so eine der wichtigsten Regeln des Jugendstrafrechts. Die Jugendlichen oder Heranwachsenden erhalten lediglich so viel Strafe, wie es erzieherisch sinnvoll ist. Das bedeutet auch: Die vieldiskutierte Jugendstrafe ist nur das allerletzte Mittel. Sie wird erst dann verhängt, wenn alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft und wenig aussichtsreich sind.
Die Maßnahmen sind vielfältig
Da gibt es etwa die Maßnahmen zur Besserung und Sicherung, die leichtesten Mittel. "Die wirken oft individuell auf die begangene Straftat sowie die damit einhergehenden besonderen Umstände des Jugendlichen", sagt Heindorf. Möglich sei etwa die Teilnahme an einem Anti-Aggressionskurs bei Gewaltdelikten oder am Verkehrsunterricht bei einer Verkehrsstraftat. In Betracht kommen aber auch die Verpflichtung, eine Arbeitsstelle anzunehmen, einen Job weiterzuverfolgen oder Sozialstunden zu leisten. Wenn Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen kommen, können Richter auch eine Beistandschaft oder betreutes Wohnen anordnen.
Etwas schwerwiegender sind die Zuchtmittel. Dazu gehören die Verwarnungen, so etwas wie der erhobene Zeigefinger des Gerichts, aber auch Auflagen, etwa um die jungen Angeklagten dazu zu bringen, sich mit der Tat zu beschäftigen. Beispiele wären die Verpflichtung, sich bei dem Opfer zu entschuldigen oder einen Aufsatz zu schreiben, erklärt Heindorf. Wiegt die Tat schwerer oder landet ein junger Mensch nicht zum ersten Mal vor Gericht, kommt schließlich auch der Jugendarrest infrage. "Das ist dann schon die Vorstufe der Jugendstrafe."
Das Gesetz gibt Beispiele für Maßnahmen vor, die das Gericht gegen den jungen Angeklagten verhängen kann. Die Liste ist jedoch bei weitem nicht abschließend - mitunter muss das Gericht also kreativ werden. Denn der Punkt ist doch, so die Rechtsanwältin, dass es auf den konkreten Jugendlichen ankommt. Die Probleme dieser jungen Menschen seien höchst individuell. Der Staat müsse jedoch genau daran anknüpfen, um den Jugendlichen wieder auf den richtigen Weg zu bringen. "Und das ist das Ziel."
Richter werden zu Pädagogen
Das Konzept des Jugendstrafrechts "Erziehung statt Strafe" ist somit eine große Herausforderung für das Gericht. Zum einen müssen die Richterinnen und Richter herausfinden, welche Umstände genau zu der Tat geführt haben, zum anderen müssen sie förmlich in den Kopf des jungen Menschen schauen: Unter welchen Umständen lebte er zur Tatzeit, was beschäftigte ihn? Sieht er seine Tat ein, verspürt vielleicht sogar Reue - was war das Motiv? "Gerade bei Jugendlichen spielen auch Gruppendynamik und spontanes Handeln eine große Rolle", fügt Heindorf hinzu. Diese Herausforderung wird auch in der Art und Weise des Verfahrens deutlich: Je jünger die Angeklagten sind, desto mehr wird der Richter zum Pädagogen.
Scheinen dem Gericht weder Erziehungsmaßnahmen noch Zuchtmittel zielführend, bleibt schließlich die Jugendstrafe. Natürlich sei die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es bei schweren Verbrechen wie Mord oder versuchtem Mord eine Freiheitsstrafe gebe, sagt die Strafverteidigerin. Im Fall der zwei 15-jährigen Mädchen aus Barsinghausen könnte das Urteil somit auf der Hand liegen. Doch ganz so einfach ist es nicht, mahnt Heindorf.
So wird die Jugendstrafe erst dann verhängt, wenn das Gericht bei dem jungen Menschen eine schädliche Neigung oder die Schwere der Schuld feststellt. "Und von diesen Kriterien darf das Gericht nicht per se ausgehen", betont die Strafverteidigerin. "Auch nicht bei einer schweren Tat wie versuchtem Mord." Es ist somit keinesfalls selbstverständlich, dass das Landgericht Hannover die beiden Mädchen zu einer Jugendstrafe verurteilt.
Härtere Strafen für Jugendliche?
Nun stößt das Jugendstrafrecht immer wieder auf Kritik. Insbesondere, wenn Fälle mit jugendlichen Straftätern wie jüngst in Wunstorf oder Freudenberg Schlagzeilen machen, heißt es oft, das Recht sei den jungen Menschen gegenüber zu lasch. Was aber wäre der Umkehrschluss? "Niemandem ist geholfen, wenn wir 14-Jährige ins Gefängnis schicken und sie nicht einmal ihre Pubertät ausgelebt haben, geschweige denn ausgebildet oder sozialisiert sind, wenn sie rauskommen", mahnt Heindorf. Weitaus hilfreicher sei es, so die Strafrechtlerin, den bisherigen Fokus der erzieherischen Maßnahmen konsequent beizubehalten.
Dies legen auch Kriminalstatistiken nahe. So stieg die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen im vergangenen Jahr zwar überraschend an - im Vergleich zu den Anfängen der 2000er Jahre nahm sie jedoch um rund 63 Prozent ab. Auch ist lange bekannt, dass weder höhere Strafandrohungen noch Aufenthalte in Gefängnissen, den sogenannten Brutstätten des Verbrechens, zu weniger Kriminalität führen.
Es sei doch so, sagt Heindorf abschließend. "Wenn junge Menschen mit erzieherischen Maßnahmen nicht zu erreichen sind und sich wiederholt vor Gericht verantworten müssen, hat die Justiz alle Mittel, darauf zu reagieren." Im Fall von Barsinghausen soll morgen das Urteil fallen. Trotz hoher Hürden im Jugendstrafrecht ist es unwahrscheinlich, dass die beiden Mädchen mit einer milden Strafe davonkommen. Immerhin waren sie mutmaßlich bereit, ein Menschenleben für ein Smartphone zu opfern. Außerdem fällt eine der beiden den Behörden nicht das erste Mal auf: Die 16-jährige Angeklagte ist der Polizei bereits wegen Sachbeschädigung, Diebstahl und Körperverletzung bekannt.
Quelle: ntv.de, mit dpa