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Umgang mit straffälligen Kindern "Jugendhilfe soll gerade keine Strafe vollziehen"

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Da die beiden Täterinnen aus Freudenberg erst 12 und 13 Jahre alt sind, können sie strafrechtlich nicht belangt werden.

(Foto: picture alliance/dpa)

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Nach der erschütternden Tat in Freudenberg, wo zwei Mädchen eine Zwölfjährige töteten, fordert etwa die Unionsfraktion, das Alter für die Strafmündigkeit in Deutschland zu senken. Der Psychologe Michael Macsenaere hält dies für weniger sinnvoll. So bieten pädagogisch-therapeutische Maßnahmen größere Chancen, junge Menschen, die straffällig werden, "wieder auf den richtigen Weg zu bringen", sagt er im Gespräch mit ntv.de. Dabei gehe es im ersten Schritt weniger um die Aufarbeitung der Tat als vielmehr um die Stärken der jungen Menschen.

ntv.de: Kinder sind nicht strafmündig. Wenn sie Straftaten begehen, drohen ihnen also - zumindest strafrechtlich - keine Konsequenzen. Stattdessen sind die Jugendämter und Familiengerichte zuständig. Was passiert dort mit den Minderjährigen?

Michael Macsenaere: Ohne eine richterliche Anordnung wird in der Regel eine stationäre Kinder- und Jugendhilfe in die Wege geleitet, beispielsweise eine Heimerziehung. Mit einer richterlichen Anordnung können die Kinder aber auch - Tag und Nacht - in eine sogenannte geschlossene Unterbringung kommen. Ob Heimerziehung oder geschlossene Unterbringung: damit geht einher, dass die jungen Menschen während dieser Zeit von ihrer Peer-Group, also der Gruppe, mit der sie sich üblicherweise umgeben, getrennt sind. Gerade bei Mehrfachtätern ist es wichtig, die Jugendlichen aus ihrem gewohnten Setting zu holen. Denn oft werden Straftaten ja auch in der Gruppe begangen.

Geschlossene Unterbringung klingt beinah wie ein Gefängnis. Hat die Maßnahme also doch einen Strafcharakter?

Michael Macsenaere ist Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz.

Michael Macsenaere ist Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz.

Nein, im Gegenteil. Kinder- und Jugendhilfe soll gerade keine Strafe vollziehen, sondern die jungen Menschen mit pädagogischen und therapeutischen Mitteln befähigen, ein gelingendes Leben in unserer Gesellschaft zu führen. Im Rahmen einer geschlossenen Unterbringung wird diese Geschlossenheit genutzt, um mit dem jungen Menschen intensiv pädagogisch-therapeutisch arbeiten zu können. Aber tatsächlich können die Kinder dieses Heim die ersten Monate nicht verlassen, da gibt es auch entsprechende Sicherungen an Fenstern und Türen. Erst, wenn sie sich bewährt haben, wird dies gelockert. Die Kinder und Jugendlichen werden während einer geschlossenen Unterbringung auch schulisch in der Einrichtung gefördert - entweder in kleinen Gruppen oder über flexible Online-Schulsysteme.

Wie genau sehen pädagogisch-therapeutische Maßnahmen für Kinder und Jugendliche, die im schlimmsten Fall sogar einen Menschen umgebracht haben, aus?

Kinder und Jugendliche, die einen Menschen umgebracht haben, stellen in der Kinder- und Jugendhilfe eine absolute Ausnahme dar. Wissenschaftliche Befunde liegen daher zu dieser Klientel nicht vor - sehr wohl aber zu jungen Menschen, die oft als "Systemsprenger" tituliert werden und mehrere polizeilich ermittelte Straftaten begangen haben. Für diese Gruppe - so zeigen es die empirischen Befunde - eignet sich im besonderen Maße die sogenannte Individualpädagogik. Hier finden die Hilfen in einer Eins-zu-Eins-Betreuung statt - im Unterschied zu sonstigen stationären Hilfen, wo üblicherweise in Gruppensettings gearbeitet wird.

Was macht diese Individualpädagogik aus?

Es gibt zwei wesentliche Merkmale in der individualpädagogischen Arbeit mit "Systemsprengern": Zunächst einmal werden die Kinder und Jugendlichen im Sinne eines Tabula-Rasa-Prinzips aus ihrem bisherigen Umfeld geholt, um bisherige dysfunktionale Routinen zu durchbrechen und einen völligen Neubeginn zu ermöglichen. Diese möglichst große physische und psychische Distanz zu ihrem bisherigen Alltag wird dann genutzt, und das klingt erst einmal ungewöhnlich, um an den Kompetenzen und Interessen der jungen Menschen anzusetzen. Es werden also in einem ersten Schritt gerade nicht die Schwächen in den Vordergrund gestellt, sondern das, was die oder der Minderjährige gut kann. Wir nennen das Ressourcenorientierung - was kann der junge Mensch konstruktiv erreichen?

Inwiefern geht es darum, ihre Taten aufzuarbeiten?

Auf der in den ersten Schritten erarbeiteten Grundlage wird in der Folge natürlich auch gründlich an den Defiziten gearbeitet und begangene Straftaten aufgearbeitet.

Was brauchen die Kinder und Jugendlichen Ihrer Erfahrung nach am meisten, um ihr bisheriges Verhalten zu ändern und nicht wieder straffällig zu werden?

Das Tabula-Rasa-Prinzip hatte ich bereits genannt. Darüber hinaus brauchen sie Verlässlichkeit. Ganz wichtig ist eine Bindung zu einem erwachsenen Menschen, auf den sie sich verlassen können. Manchmal ist das für die jungen Menschen eine ganz neue, wertvolle Erfahrung. Deswegen ist die Beziehungsarbeit eines Pädagogen gerade auch am Anfang so wichtig. Zudem hilft es sehr, den jungen Menschen in alles miteinzubeziehen, also nicht über seinen Kopf hinweg zu entscheiden. Sie oder er sollte nicht nur gesagt bekommen, was er nicht darf oder wo er Mist gebaut hat. Mit der Möglichkeit zum Mitdenken, Mitreden und Mitentscheiden erfährt der junge Mensch sich als Akteur und lernt auch, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.

Aber benötigen Kinder, die das Gesetz verletzten, nicht gerade klare Regeln?

Absolut: Eine klare Struktur ist wichtig. Allerdings haben die Kinder und Jugendlichen eine viel höhere Bereitschaft, diese zu befolgen und sich auf die pädagogischen Maßnahmen einzulassen, wenn sie das Gefühl haben, ernst genommen und beteiligt zu werden. Aus der Wirkungsforschung wissen wir, dass die pädagogische Arbeit mit jungen Menschen fast chancenlos ist, wenn diese sich nicht informiert und beteiligt fühlen.

Die pädagogische Maßnahme soll vor allem zum Ziel haben, dass die Kinder und Jugendlichen sich künftig an das Gesetz halten und nicht mehr kriminell auffallen. Wie ist die Erfolgsquote der Jugendhilfe?

Die wenigen vorliegenden Studien kommen zu eher ermutigenden Ergebnissen. Sie zeigen für den Großteil langfristig eine gute Legal- und Sozialbewährung. Und dies trotz zum Teil drastischster Problemlagen zu Beginn der Jugendhilfe.

Halten Sie es für sinnvoll, das Alter der Strafmündigkeit zu senken?

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Aufgrund fehlender belastbarer wissenschaftlicher Studien hierzu kann ich Ihnen keine fundierte Antwort geben. Wenn ich alle mir vorliegenden Befunde aber versuche, zu einem Bild zusammenzusetzen, würde ich eine frühere Strafmündigkeit eher nicht befürworten. Vor allem aus einem Grund: Wir haben mehr Chancen, die jungen Menschen wieder auf den richtigen Weg zu bringen, wenn wir mit ihnen pädagogisch-therapeutisch in einem geschützten Setting arbeiten, als wenn wir eine Strafe vollziehen.

Mit Michael Macsenaere sprach Sarah Platz

(Dieser Artikel wurde am Samstag, 18. März 2023 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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