War Tat in Regio abwendbar? Psychiater sah keine Gefahr durch Ibrahim A.
27.01.2023, 08:45 Uhr Artikel anhören
Einwohner der Kleinstadt Brokstedt gedachten am Donnerstagabend der Opfer der Messerattacke.
(Foto: Marcus Brandt/dpa)
"Wie konnte es sein, dass ein solcher Täter noch hier im Land war?" Diese und andere Fragen müssen die Behörden im Fall Brokstedt klären. Der Messerangreifer Ibrahim A. war ein verurteilter Straftäter. Dass er vor der Tat aus der U-Haft entlassen wurde, überraschte selbst seinen Anwalt.
Nach der Messerattacke mit zwei Toten in einem Regionalzug in Schleswig-Holstein gibt es weiter offene Fragen zum Umgang der Behörden mit dem zuvor straffällig gewordenen Täter. Die Frage sei, ob die Bluttat, die der 33-jährige staatenlose Palästinenser Ibrahim A. begangen haben soll, hätte verhindert werden können, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Donnerstagabend in Brokstedt. Aufgeklärt werden müsse, "wie konnte es sein, dass ein solcher Täter noch hier im Land war".
Bei der Messerattacke im Zug von Kiel nach Hamburg waren am Mittwoch eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger getötet sowie fünf weitere Reisende teils schwer verletzt worden. Auf dem Bahnhof von Brokstedt wurde der Angreifer von der Polizei festgenommen, nachdem andere Fahrgäste ihn überwältigt hatten. Der 33-jährige Täter war erst vor wenigen Tagen auf Beschluss des Landgerichts Hamburg aus der Justizvollzugsanstalt Billwerder entlassen worden, wo er wegen eines Gewaltdelikts in Untersuchungshaft saß.
Seit seiner Einreise nach Deutschland 2014 war der Mann nach Angaben der Behörden mehrfach mit Gewaltdelikten auffällig geworden. 2021 erhielt er Hausverbot in einer Kieler Gemeinschaftsunterkunft. Ein subsidiärer Schutzstatus verhinderte seine Abschiebung. "Wie konnte das passieren, dass er trotz so vieler Vorstrafen nicht länger in einer Justizvollzugsanstalt war?", fragte Faeser, die mit Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther nach Brokstedt gekommen war. Nun müsse geklärt werden, wie es passieren konnte, "dass er so früh aus der Untersuchungshaft wieder entlassen wurde", sagte Faeser, und "warum Menschen, die so gewalttätig sind, noch hier in Deutschland sind".
Nach Angaben der Hamburger Justizbehörde war der Täter wenige Tage vor der Attacke im Zug in der Justizvollzugsanstalt Billwerder psychiatrisch beurteilt worden. "Ein Psychiater hat kurz vor der Entlassung keine Fremd- und Selbstgefährdung festgestellt", sagte eine Sprecherin am Donnerstagabend. Deshalb habe es auch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür gegeben, eine rechtliche Betreuung zu beantragen oder den Sozialpsychiatrischen Dienst einzuschalten. Auf einen terroristischen Hintergrund der Tat gibt es laut Staatsanwaltschaft Itzehoe keine Hinweise.
Die Vernehmung des Mannes brachte bisher auch noch keine Ergebnisse, sodass über dessen Motive nichts gesagt werden könne, gab Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack an. Sie warnte deshalb vor zu schnellen politischen Forderungen als Reaktion auf das schreckliche Geschehen. Nach Angaben seines Anwalts will der Beschuldigte offenbar vorerst nichts zu den Vorwürfen sagen. Ibrahim A. mache von seinem Schweigerecht Gebrauch, sagte der Bonner Rechtsanwalt Björn Seelbach dem "Spiegel".
"Das war der Grund für seine Flucht"
Das Amtsgericht St. Georg hatte A. im August 2022 nach einem Messerangriff zu einem Jahr und einer Woche Gefängnis wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahls verurteilt. Da das Urteil noch nicht rechtskräftig war und die Dauer der Untersuchungshaft nahezu das Strafmaß erreicht hatte, kam A. am 19. Januar durch eine Entscheidung des Hamburger Landgerichts frei - zur Überraschung seines Anwalts Seelbach, wie der "Spiegel" berichtet.
Es wäre "besser gewesen, man hätte ihn auf die Entlassung vorbereiten können", sagte Seelbach dem Magazin. Da Ibrahim A. vor der Inhaftierung in Hamburg obdachlos gewesen sei, "stand er jetzt auf der Straße". Sein Mandant habe keine Familienangehörigen in Deutschland, betonte Seelbach. Die Familie A. habe im Gazastreifen gelebt und sei von der Terrororganisation Hamas drangsaliert worden. "Das war der Grund für seine Flucht."
Im Urteil des Amtsgerichts Hamburg-St. Georg heißt es: Ibrahim A. und mehrere Angehörige hätten im Gazastreifen "schwerste Misshandlung durch die Hamas" erlebt. Ibrahim A. seien "Verbrennungen und Schnittverletzungen zugefügt" worden. Einen Onkel habe die Hamas getötet. Seine Mutter verstarb demnach 2010, sein Vater 2012. Er habe noch sechs Geschwister, die zumindest im August 2022 alle noch im Gazastreifen lebten.
Opfer kannten sich
Nachdem Ibrahim A. 2014 nach Deutschland eingereist war, hatte er dem Urteil zufolge zahlreiche Jobs. So arbeitete er auch als Fahrer für Amazon und DHL. Das Amtsgericht St. Georg bemängelte in seinem Urteil vom 18. August 2022, Ibrahim A. habe in Deutschland "kein tragfähiges soziales Netz". Einen Beruf habe er nicht erlernt. Das Gericht sah ein Risiko von 50 Prozent, dass Ibrahim A. wieder Straftaten begehe.
Nach Angaben der Behörden kannten sich die Getöteten. Beide hätten eine Berufsschule in Neumünster besucht. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien will im Laufe des heutigen Tages dort sein, um mit Schulleitung, Lehrkräften und den Mitschülerinnen und Mitschülern zu sprechen. Freunde und Mitschüler bräuchten jetzt sofort besondere Unterstützung, um das Geschehene zu verarbeiten.
Faeser und Günther gedachten am Donnerstag in Brokstedt der Opfer und kamen auch mit Einsatzkräften zusammen, die am Mittwoch als erste an dem Zug waren, um zu helfen. Alle hätten einen "großartigen Job geleistet", sagte Günther. "Wir haben ihnen unseren Dank und unseren Respekt zum Ausdruck gebracht." Am Abend kamen am Bahnhof rund 100 Menschen mit Kerzen zusammen.
Quelle: ntv.de, fzö/dpa