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Dilemma im Entschädigungsrecht Staat lässt kindliche Missbrauchsopfer aus Lügde im Stich

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Jahrelang lockte Andreas V. Kinder in seine Hütte auf dem Campingplatz in Lügde. Mittlerweile wurde die heruntergekommene Bleibe abgerissen.

Jahrelang lockte Andreas V. Kinder in seine Hütte auf dem Campingplatz in Lügde. Mittlerweile wurde die heruntergekommene Bleibe abgerissen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Längst sitzen die Täter des Missbrauchskomplexes Lügde hinter Gittern. Viele der missbrauchten Mädchen und Jungen können jedoch auch Jahre nach der Tat nicht mit dem Trauma abschließen - noch heute kämpfen sie für eine gerechte Entschädigung. Grund dafür ist vor allem die aktuelle Gesetzeslage.

Der Staat hat seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Versprechen gegeben: Wenn es ihm nicht gelingt, sie vor einer Gewalttat zu schützen, will er ihnen wenigstens helfen, damit klarzukommen. Diesen Leitgedanken hat der Bundestag schon 1976 in ein Gesetz gegossen - das Opferentschädigungsgesetz. Es geht darum, gesundheitliche und wirtschaftliche Schäden so gut es geht abzumildern, konnten die Behörden doch schon die Ursache nicht verhindern. Das Prinzip klingt ebenso einfach wie notwendig. Sobald es ernst wird, hakt es jedoch an vielen Stellen - ganz besonders dann, wenn die Kleinsten zum Opfer von Straftaten werden.

Das macht kaum ein Fall so deutlich wie der Missbrauchskomplex von Lügde. Auf einem Campingplatz in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt wurden über Jahre hinweg Kinder Opfer schwerster sexueller Straftaten. Der Fall kam Anfang 2019 ans Licht, die Haupttäter Andreas V. und Mario S. wurden wenige Monate später zu langen Haftstrafen mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.

Um die Täter hat sich der Staat damit schnell gekümmert. Für die Opfer war der Fall hingegen noch lange nicht beendet: Über dreieinhalb Jahre später kämpfen viele von ihnen immer noch um eine Entschädigung. So gingen in Nordrhein-Westfalen 32 Anträge ein, in Niedersachsen waren es 16. Während der Landschaftsverband Westfalen-Lippe vor wenigen Wochen die ersten 15 Anträge bewilligte, konnte das Sozialamt in Hannover zwischenzeitlich sechs bewilligen, wie die Behörden ntv.de mitteilen. Mindestens 13 Betroffene, die meisten von ihnen waren zum Zeitpunkt der Taten kleine Mädchen, warten jedoch noch immer darauf, dafür entschädigt zu werden, dass sie der Staat nicht vor V. und S. schützen konnte.

Zermürbendes Verfahren

Der Fall zeigt die Probleme des Opferentschädigungsgesetzes wie unter einem Brennglas auf. "Es gibt ein gutes Gesetz, das den Opfern Hilfe verspricht - aber die versprochene Hilfe kommt bei den Betroffenen nicht an", sagt Jörg Ziercke, der Bundesvorsitzende des Weissen Rings. Laut dem Opferschutzverein liegt das auch daran, dass kaum jemand das Gesetz kennt. Im Jahr 2021 etwa stellten nicht einmal zehn Prozent aller Opfer einer Gewalttat einen Antrag auf Entschädigung. Die eigentliche Herausforderung sei jedoch das Verfahren selbst: Es sei zermürbend sowie wirtschaftlich und psychisch kaum zu ertragen, beschreibt der Verein die Erfahrungen der Opfer.

Um entschädigt zu werden, müssen Opfer ihre Betroffenheit gleich zweimal nachweisen. Der erste Schritt ist dabei noch vergleichsweise einfach: der Beweis der Tat. Im Fall Lügde sitzen die Haupttäter längst im Gefängnis. Die Taten, laut der Staatsanwaltschaft über 1000 Missbrauchsfälle, wurden ihnen nachgewiesen. Auch die Opfer wurden identifiziert. Mindestens 34 Kinder im Alter von vier bis 13 Jahren sollen Andreas V. und Mario S. sexuell missbraucht und dabei gefilmt haben, darunter auch die Pflegetochter von V. Sie soll so etwas wie ein Lockvogel gewesen sein - über sie baute V. Kontakt zu anderen Kindern auf.

Trotz mehrfacher Hinweise auf Kindesmissbrauch griffen Jugendamt und Familienhilfe nicht ein. Es kam zu gravierenden Fehleinschätzungen, Kommunikationsproblemen und auch das Ermittlungsverfahren verlief kaum besser. So verschwanden wichtige Beweise plötzlich aus den Akten. Martin Börschel, der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, der schließlich vom nordrhein-westfälischen Landtag eingesetzt wurde, fasste das Behörden-Dilemma so zusammen: "Selten hat der Staat bei der Wahrnehmung eines Verfassungsauftrages so versagt wie im Fall der Kinder von Lügde."

Opfer müssen Schaden nachweisen

Dies klingt fast wie ein Lehrbuchfall für das Opferentschädigungsgesetz. Wäre da nicht der zweite Schritt, den das Gesetz den Betroffenen abverlangt. So müssen diese nicht nur die Tat nachweisen, sondern auch den Schaden. Denn: Entschädigt werden nicht alle Opfer von Gewalttaten, sondern nur diejenigen, die durch die Tat - nachweislich - verletzt wurden. Was der Staat zahlt, etwa in Form von Geldleistungen, Renten oder für Behandlungs- und Therapiekosten, hängt also davon ab, für wie schlimm er das Leid der Betroffenen durch die Tat hält. Dafür bemisst die zuständige Behörde den Grad der Schädigungsfolgen, kurz GdS. Nur wenn der GdS bei mindestens 30 liegt, gibt es eine Grundrente.

Genau hier liegt das Nadelöhr für die Bearbeitung der Anträge der Opfer aus Lügde auf Entschädigung. Die Behörden brauchen unzählige Informationen über die Betroffenen. Diesen fällt es aufgrund der furchtbaren Erlebnisse jedoch oft schwer, an dem Verfahren mitzuwirken, erklärt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe gegenüber ntv.de. Um eine Retraumatisierung zu vermeiden, würden daher oft andere Institutionen wie Jugendämter in die Vermittlung eingebunden. "Dadurch haben die Verfahren mehr Zeit benötigt."

Noch dazu ist der Nachweis einer Gesundheitsschädigung bei sexuellem Missbrauch oft weitaus schwieriger als etwa bei einer Schusswunde durch einen Raubüberfall. "Die Schäden sind in diesen Fällen häufig psychischer Natur", erklärt die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, ntv.de. Den Gutachtern stelle sich damit die schwierige Frage, ob eine psychische Erkrankung auf die sexuelle Gewalt zurückzuführen ist oder nicht." Immerhin sind die Gründe für psychische Krankheiten komplex und vielfältig.

Psychische Erkrankung oder normale Entwicklung?

Noch komplizierter wird es, wenn es sich wie im Fall Lügde bei den Opfern um Kinder handelt. "Das ganze Entschädigungssystem ist auf Erwachsene ausgelegt, die Opfer klassischer Kriminalität wie zum Beispiel eines Raubüberfalls werden. Das ist eine ganz andere Gruppe als Kinder, die Opfer sexuellen Missbrauchs werden", sagt Claus. Viele Menschen, die in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erlebt haben, hätten sich in den Versorgungsverwaltungen nicht immer gut gesehen gefühlt.

So habe man bei Erwachsenen eine klare Vorstellung davon, wie eine gesundheitliche Schädigung aussieht, sagt Claus. "Bei Kindern ist das nicht so, vor allem weil sie sich noch entwickeln." Oft stünden Behörden vor der Frage, ob ein Verhalten nun auffällig sei oder zu einer normalen Entwicklung gehöre. Hinzu komme, dass Gutachter gerade in Kindheit und Pubertät oft auch andere Gründe benennen, die potenziell zu psychischen Krankheiten führen können. "Vielleicht weil die familiären Umstände schwierig sind oder vermeintlich die Trennung der Eltern nicht gut verarbeitet wurde." Gerade bei Kindern tun sich die zuständigen Behörden daher schwer, eine Erkrankung als Folge einer Gewalttat anzuerkennen, sagt die Missbrauchsbeauftragte.

Zumal die Bewilligungsquote bei Anträgen nach dem Opferentschädigungsgesetz generell nicht besonders hoch ist. So wurden etwa 2021 knapp die Hälfte aller Anträge auf Entschädigung abgelehnt, wie aus Zahlen des Weissen Rings hervorgeht. Bewilligt wurden nicht einmal 28 Prozent. Für Opfer bedeutet das Prozedere einen enormen Druck. Schon beim Ausfüllen des Antrags gilt es, auf 37 Zeilen möglichst überzeugend darzulegen, wie gravierend der eigene Gesundheitsschaden durch die Tat ist. Dann folgen Begutachtungen durch die Behörden und mitunter lange Wartezeiten. Die Art und Weise der Antragsprüfung werde den Opfern oft nicht gerecht, sagte der führende Kinderschutzexperte Jörg Fegert vom Universitätsklinikum Ulm dem "Spiegel". Häufig stehe "der unausgesprochene Vorwurf im Raum, ein Opfer, das gut im Alltag zurechtkommt, sei kein richtiges Opfer". So würden Narben aufgerissen.

Es fehlt an Expertise

Nicht wenige Betroffene geben dem zermürbenden Prozess und den hohen Anforderungen des Gesetzes irgendwann nach und ziehen ihre Anträge zurück. Auch einige der Opfer aus Lügde haben ihren Kampf erfolglos aufgegeben. "Dabei sollte es gerade im Opferentschädigungsrecht darum gehen, frühzeitig zu helfen und nicht zu warten, bis es den Kindern richtig dreckig geht", kritisiert Claus. Auch hapere es oft schon am Informationsfluss. Es brauche daher dringend mehr Schulungen und Qualifizierungen der zuständigen Behörden im Umgang mit Kindern.

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Ein Stichwort in diesem Zusammenhang sind Traumaambulanzen. Für eine bessere Versorgung von Opfern, vor allem durch Frühintervention, sollen die Länder nach einer Reform des Entschädigungsrechts flächendeckend mit ihnen ausgestattet werden. Es gibt jedoch einen Haken: Spezielle Ambulanzen für Kinder und Jugendliche sind nicht vorgesehen. Von diesen gibt es bisher nur wenige. Vor allem die Länder seien dagegen gewesen, schreibt der Psychiater Fegert in einem Thesenpapier. Hintergrund sei die Annahme der Länder, "dass ihnen die Fachkräfte fehlen, kindliche Verbrechensopfer entsprechend frühzeitig fachgerecht zu versorgen".

Dabei wäre das die spezifische Expertise, die man auch in der Bewertung des Gesundheitsschadens bräuchte, sagt Claus. Behörden könnten auf die Expertise der Ambulanzen zurückgreifen, was die Bearbeitung schneller machen würde. Es wäre eine Lösung, damit Kinder, die zum Opfer sexueller Gewalt werden, nicht jahrelang auf eine Entschädigung warten müssen.

Quelle: ntv.de

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