
Kassra Zargaran hat Berlin und seinem alten Leben den Rücken gekehrt.
(Foto: picture alliance/dpa)
Jahrelang dient sich Kassra Zargaran die Hierarchie-Leiter der Hells Angels vom Hangaround zum Member hinauf. Gewalt ist selbstverständlich, Loyalität unabdingbar. Dafür gibt es Macht und gute Geschäfte. Doch dann kommen Zargaran Zweifel.
"Ich hatte einen guten Ruf, war ein stabiler Junge, der sich nichts sagen lässt, sich nicht unterdrücken lässt und auch wehrfähig ist." So beschreibt sich Kassra Zargaran mit Anfang 20. Heute ist er 35, Ex-Mitglied der Hells Angels, hat eine längere Haftstrafe verbüßt und lebt unter Polizeischutz. "Mein Leben ist jetzt ziemlich langweilig, aber ich habe ja schon Leben für zwei geführt, vielleicht sogar für drei", sagt er im Gespräch mit ntv.de.
Über diese Leben hat er zusammen mit dem Autor Nils Frenzel ein Buch geschrieben. "Der Perser - Wie ich ein Hells Angel wurde, als Kronzeuge vor Gericht auspackte und im Zeugenschutz landete" ist gerade erschienen. Es ist der Versuch einer Selbsterklärung und gleichzeitig ein Lehrstück über zerstörerische Männlichkeitsbilder.
1986 kommt Zargaran als Sohn eines Iraners und einer Deutschchilenin in Norderstedt, einer Kleinstadt 20 Kilometer nördlich von Hamburg, zur Welt. Schon in der Schule fällt er mit Gewaltausbrüchen auf, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. Nachdem er einen Lehrer verletzt hat, schickt der Vater den inzwischen 15-Jährigen für einige Monate in den Iran. "Für mich war das einfach nur Scheiße, ich wollte wieder zurück. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, das ist meine Heimat", sagt er heute über diesen Ausflug.
Immer tiefer in die Szene
Die vermutlich erhoffte erzieherische Wirkung der Reise bleibt aus. Zargaran geht nach seiner Rückkehr nicht mehr zur Schule, dafür ins Boxstudio und steigt kurz darauf in die kriminelle Halbwelt auf der Hamburger Reeperbahn und das Rotlichtmilieu im Kiez ein. "Wir waren immer unterwegs, haben gesehen, die Größeren verdienen Geld, illegal oder halbkriminell. Dahin habe ich mich orientiert. Dann hatte ich die Kontakte und bin da immer weiter reingerutscht", so Zargaran.
Einen Versuch startet er noch in ein bürgerliches Leben, kurz zuvor ist er Vater geworden. Der inzwischen 20-Jährige beginnt eine Kochlehre. Doch wieder eskaliert ein Streit und die Lehre ist danach beendet. "Und dann habe ich gesagt, jetzt können mich alle am Arsch lecken. Jetzt mache ich das, wo ich am erfolgreichsten war und das war halt auf der Straße im Rotlichtmilieu. Da war ich akzeptiert und anerkannt." Zargaran arbeitet als Türsteher und Zuhälter, als er gefragt wird, ob er Lust hat, in Kiel ein Supporter-Charter der Hells Angels mit aufzubauen. "Ich bin dann ein paarmal hin, das hat auf beiden Seiten gepasst, und so bin ich dann in die Szene rein."
Zargaran findet hier, was er am meisten vermisst: Anerkennung, klare Regeln und eine Männergemeinschaft. In einer Studie zum Thema Rockerkriminalität kommt eine Forschungsgruppe des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) gerade zu dem Schluss, dass es sich bei Rockerklubs sowohl um eine männliche Subkultur als auch um organisierte Kriminalität handelt. Nur Männer dürfen Mitglieder werden, innerhalb der Szene herrsche ein sehr klassisches Rollenbild, schreiben die Forschenden. Das "traditionell stolze Männlichkeitsideal" komme dem Bedürfnis der Mitglieder nach Macht und Ehre entgegen. Zargaran ist mehr als bereit, sich dafür auch den Regeln der Hells Angels zu unterwerfen. "Wenn man in diesem Milieu unterwegs ist, versteht man schnell, dass da nur das Recht des Stärkeren herrscht", erzählt er. "Da kann man nicht mit Eloquenz und Wortgewalt glänzen, sondern man muss wehrfähig sein, seine Sachen geregelt bekommen und Durchsetzungskraft haben."
"Mir kann keiner was"
Der "Perser", wie er schnell wegen seiner halbiranischen Herkunft heißt, bekommt seine Sachen geregelt. Und er will bei den wichtigen Leuten mit am Tisch sitzen. In Berlin ist Kadir Padir gerade aufsehenerregend von den Bandidos zu den Hells Angels gewechselt. Zargaran biedert sich dem neuen starken Mann an und arbeitet sich in den Klubhierarchien hoch, vom Hangaround zum Prospect, bis er schließlich 2013 vollwertiges Mitglied der "Hells Angels Berlin City" ist. "Ich habe keine Sekunde gedacht, das kann nach hinten losgehen. Bei mir war das so, was kostet die Welt, mir kann keiner was."
Es sind sektenartige Strukturen, die nun sein Leben bestimmen, mit unumstößlichen Hierarchien. Die sozialen Kontakte beschränken sich weitgehend auf die Hells Angels und deren Treffen. Es folgt Bewährungsprobe auf Bewährungsprobe, bei der die Loyalität zum Klub immer wieder neu unter Beweis gestellt werden muss. Zargaran beschreibt es als ein sehr lebendiges Leben. "Man ist viel unterwegs, lernt viele Leute kennen." Dass dabei auch immer wieder Gewalt angewendet wird, ist für ihn selbstverständlich.
Doch seit er Member ist, kommen ihm auch gelegentlich Zweifel. Padir erweist sich zunehmend als autoritärer Herrscher, der die angeblich so demokratischen und gerechten Regeln der Hells Angels immer so auslegt, wie es für ihn am besten passt. "Irgendwann war ich an dem Punkt, wo ich gesagt habe, ich muss hier raus, habe aber noch keinen Ausweg gefunden. Ich hatte das Rückgrat nicht für die Konsequenzen, mich wirtschaftlich und auch lebenstechnisch aus Berlin zu entfernen", sagt er.
Ein Mord zu viel
Dann kommt der 10. Januar 2014. Eine Gruppe von zwölf Hells Angels stürmt ein Wettbüro in der Berliner Residenzstraße. Dessen Betreiber Tahir Ö. steht den Bandidos nahe. Und er soll bei einer Prügelei vor einer Diskothek einen Hells Angel verletzt haben. Die Racheaktion dauert nur 25 Sekunden und ist von Überwachungskameras dokumentiert. Ö. stirbt von sechs Kugeln getroffen. Unter den vermummten Angreifern ist auch Zargaran.
Gemeinsam mit den anderen Beteiligten wird er wegen Mordes angeklagt. Doch inzwischen ist seine Loyalität zum Klub nicht mehr groß genug, um das Gesetz des Schweigens einzuhalten. Zargaran nimmt sich einen eigenen Verteidiger und entscheidet sich, als Kronzeuge auszusagen. Am Ende wird er ebenfalls wegen Mordes verurteilt, kommt aber mit zwölf Jahren Strafe glimpflicher als die meisten seiner Mitangeklagten davon. Im Prozess wird deutlich, dass er bei Padir ohnehin schon in Ungnade gefallen war.
"Irgendwann muss man sagen, ich geh jetzt links oder rechts", begründet er die Entscheidung heute. "Bei Mord ist der Spaß vorbei, und wenn man Handgranaten wirft und Leute aufschlitzt, damit sie lange und qualvoll sterben. Ich habe vieles akzeptiert und dafür auch meine Haftstrafe bekommen, aber da war dann Schluss." Inzwischen hat er seine Strafe verbüßt, fast sieben Jahre saß er überwiegend in Isolationshaft, aus Sicherheitsgründen, denn die Hells Angels schätzen keine Verräter. Deshalb lebt Zargaran heute nicht mehr in Berlin. Seine frühere Partnerschaft ging kaputt, das Verhältnis zur Tochter war viele Jahre schwierig.
Wenn er von den Jahren als Hells Angel erzählt, mischen sich Verwunderung und Verdrängung. Verwunderung darüber, dass er den Regeln der Hells Angels so naiv und bereitwillig gefolgt ist. Aber seine eigene Rolle sieht er bis heute als jemand, der Grenzen beim Einsatz von Gewalt hatte, sich an die Regeln gehalten hat und seine Geschäfte immer unabhängig von den kriminellen Strukturen des Klubs gemacht haben will. Dass das Buch seine Sicht erzählt, ist ihm wichtig. Dass er sich verändert hat auch. "Ich kann mit schwierigen Situationen besser umgehen. Wenn ein Kassierer früher unfreundlich war, habe ich aufs Kassenband geschlagen. Heute bezahle ich und gehe einfach."
Drei, vier Jahre der Haft habe er mit Selbsterkundungen verbracht, erzählt er. Er habe sich gefragt, woher die Suche nach Anerkennung kommt, das Bedürfnis, immer im Vordergrund zu stehen. "Ich musste in Ecken gehen, die nicht schön sind. Da muss man bereit sein, sich selbst zu hinterfragen. Ich hab es gemacht und auch vieles verstanden." Heute wolle er nicht mehr für jeden ein toller Kerl sein. "Ich habe einen guten Umgang mit meinen Menschen, ich kommuniziere vernünftig, habe ausreichend Impulskontrolle. Ich bin ganz zufrieden. Ich glaube, dass ich heute eine gute Version meines Ichs bin."
Quelle: ntv.de