Epidemiologe im Interview "Wir sind noch lange nicht über den Berg"
13.12.2021, 16:23 Uhr
Mehr als sechs Millionen Impfungen wurden in der vergangenen Woche verabreicht.
(Foto: picture alliance/dpa)
Mit den Kinderimpfungen beginnt eine weitere wichtige Phase im Kampf gegen die Pandemie. Zudem sinken die Infektionszahlen. Es könnte ein gutes Zeichen sein, ist Epidemiologe Timo Ulrichs im ntv-Gespräch vorsichtig optimistisch. Allerdings widerspricht er Gesundheitsminister Karl Lauterbach in einem Punkt.
ntv: Diese Woche geht es los mit den Impfungen für Kinder ab fünf Jahren. Was versprechen Sie sich davon mit Blick auf den Impffortschritt?
Timo Ulrichs: Zunächst gibt es mit den Kindern, die geimpft sind, eine zusätzliche Sicherheit an den Schulen, die wir ja auch bei den Kindern oder Jugendlichen ab zwölf Jahren haben. Wenn sich schon die Erwachsenen drum herum nicht impfen lassen, ist es gut, dass zumindest die Kinder eine gute Durchimpfung bekommen. Zudem könnte es sein, dass die Eltern auch noch einmal darauf gestoßen werden, etwa in Familien, in denen das bisher nicht der Fall war, sich vielleicht doch noch impfen zu lassen.
Nun hat die Ständige Impfkommission (STIKO) nur eine Empfehlung für Kinder mit Vorerkrankungen herausgegeben. Sie sagen trotzdem: Alle Kinder impfen?
Das wäre eigentlich sinnvoll. Es gibt viele Länder, die das lange schon so praktizieren und damit ganz gut fahren. Die Sicherheitsaspekte und die Schutzwirkungen sind auf jeden Fall gegeben. Man darf auch nicht vergessen, dass es auch ohne Symptome einer Covid-19-Erkrankung Entwicklungen von Long Covid geben kann. Und das wünscht man keinem Kind. Natürlich sollte man zurückhaltend sein, was die Empfehlungen angeht. Aber irgendwann muss eine Empfehlung kommen. Die STIKO ist jetzt leider immer so ein bisschen zeitlich versetzt gewesen zu den Erkenntnissen und Empfehlungen in den anderen Ländern. Da sie aber ausdrücklich gesagt hat, es ist freigestellt, ob die Kinder geimpft werden sollen oder nicht, liegt die Entscheidung bei den Eltern. Da kann man einfach nur empfehlen, die Kinder impfen zu lassen.
Wo sollte man die Kinder denn am besten impfen lassen?
Bei Kindern mit Vorerkrankungen ist es ganz wichtig, dass der behandelnde Arzt mit dabei oder zumindest informiert ist. Die Impfangebote in den Schulen sind nicht schlecht. Aber wenn irgendwelche Allergien, Risiken oder sonstige Bedenken bestehen, sollte man doch lieber den Hausarzt oder den Kinderarzt kontaktieren. Das ist sinnvoll.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will Geboosterten die Testpflicht erlassen. Gehen Sie da mit?
Angesichts der vierten Welle sollte man tatsächlich auch bei den Geboosterten empfehlen, sich testen zu lassen. Wenn die Welle abnimmt, kann man darüber reden. Klar haben die Geboosterten einen sehr, sehr guten Immunschutz, und das Risiko, dass sie da was weitergeben können, ist sehr niedrig. Allerdings sollten wir auf eine mögliche Verbreitung der Omikron-Variante vorbereitet sein. Da kann es eben doch schon etwas wahrscheinlicher sein, dass die Viren zu einer Infektion führen und diese Viren dann auch weitergegeben werden.
Ist die Booster-Impfung kein richtiger Schutz vor Omikron?
Doch. Sie ist der beste Schutz, den wir haben, und der ist gar nicht so schlecht. Sie schützt verlässlich vor Erkrankungen mit schweren Verläufen, das ist ziemlich sicher. Es kann aber vorkommen - das haben wir in Einzelfällen schon beobachtet - dass es auch bei Geboosterten mit gutem Immunstatus zu einer Infektion kommt. Deswegen sollte man gerade angesichts der aktuellen Infektionsdynamiken ein bisschen vorsichtig sein. Also wäre eine weitere Testung - vielleicht nicht als Pflicht, aber indem man sorgsam ist und das selber macht - schon nicht schlecht.
Nun ist Lauterbach ja auch Epidemiologe. Wie kann es sein, dass man da zu so unterschiedlichen Ansichten kommt?
Wir wollen, dass alle vollständig Geimpften - in diesem Fall die Geboosterten- wieder ein möglichst normales Leben führen können. Es gibt auch gute Gründe, dass alle, die den vollständigen Immunschutz haben, aus den Extra-Maßnahmen so langsam rausgehen. Ich würde aber angesichts dieser hohen Infektionsdynamik - im Peak der vierten Welle - lieber vorsichtig sein. Und man kann es etwas lockern, wenn wir da mit den Zahlen runtergehen. Im Augenblick sieht es ja so aus, als wären wir auf einem ganz guten Weg.
Sie trauen der sinkenden Inzidenz.
Man muss es immer noch abwarten. Wir haben derzeit keine weiter steigenden Zahlen. Es könnte noch etwas verzerrt sein durch die Ausschöpfung der Testkapazitäten in vielen Bereichen und manchen Gegenden. Wir sehen in einzelnen Bundesländern durchaus sinkende Zahlen, auch in den Hotspots. Und das ist schon mal gar nicht so schlecht. Stabilisiert sich dieser Trend, könnten wir so langsam wieder zu besseren Zahlen kommen. Allerdings sind wir noch lange nicht über den Berg. Obendrein werden wir erst zeitversetzt den weiteren Anstieg von Krankenhauseinweisungen und der Belegungen von Intensivbetten sehen. Für das Gesundheitssystem heißt das, die schwierigen Tage und Wochen stehen uns noch bevor.
Mit Timo Ulrichs sprach Katrin Neumann
Quelle: ntv.de