Sex ohne Kondom vor Gericht Wo bei "Stealthing"-Fällen das Problem liegt
11.02.2023, 18:17 Uhr
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Viele Opfer von "Stealthing" haben lange mit dem Vertrauensverlust zu kämpfen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Sex ohne Kondom kann hinter Gittern enden - unter Umständen. So könne es eine Vergewaltigung sein, wenn jemand heimlich auf das Verhütungsmittel verzichtet oder es abzieht, heißt es jüngst vom BGH. In der Realität gestalten sich "Stealthing"-Fälle jedoch äußerst schwierig.
Nach dem Sex fühlten sie sich ausgenutzt, wie gelähmt und um ihre Selbstbestimmung betrogen. Als sie verstanden hatten, was ihnen widerfahren ist, haben sie sich sofort auf Krankheiten untersuchen lassen, berichten viele Opfer in Internetforen und sozialen Netzwerken. Einige verfolgte dieser Geschlechtsverkehr noch Jahre, für sie war er traumatisch. Und das, obwohl sie ihm zustimmten. "Ich habe mich mit diesem One Night Stand schon öfter getroffen", berichtete etwa Theresa in dem WDR-Podcast "Intimbereich". Nach einem jener Treffen endete der Kontakt jedoch abrupt. "Wie schlimm das war", was ihr Sexpartner getan hatte, wurde Theresa allerdings erst später richtig klar.
Denn Theresa und die anderen Opfer stimmten zwar dem Sex zu - allerdings nur mit Kondom. Der Schutz vor einer ungewollten Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten war für sie eine Voraussetzung für das Vergnügen. Dass es schließlich anders kam, entschied ihr Sexpartner alleine.
Die Rede ist vom sogenannten Stealthing. Übersetzt bedeutet "Stealth" so viel wie "List" oder "Heimlichkeit", was den Kern des Verhaltens beschreibt: Während des Geschlechtsverkehrs wird das Kondom - heimlich - gegen den Willen des Partners oder der Partnerin entfernt. In der vergangenen Woche befasste sich erstmals der Bundesgerichtshof (BGH) mit "Stealthing". Dabei bestätigte es die Auffassung des Düsseldorfer Landgerichts, das einen IT-Fachmann wegen sexuellen Übergriffs verurteilte, nachdem dieser seiner Sexpartnerin nur vortäuschte, ein Kondom zu verwenden. Besonders interessant war allerdings die Urteilsbegründung des obersten Gerichts: "Stealthing" kann in bestimmten Fällen sogar eine Vergewaltigung sein.
"Nein heißt Nein" zählt
Die Gerichte in Deutschland befassen sich bereits seit einigen Jahren mit dem heimlichen Entfernen des Kondoms. 2020 setzte sich die Strafbarkeit dieses Verhaltens erstmals obergerichtlich durch: Damals bestätigte das Kammergericht Berlin die Verurteilung eines Bundespolizisten wegen eines sexuellen Übergriffs. Über das Internet hatte der Mann eine Frau kennengelernt - als es zum Sex kam, bestand diese auf einem Kondom. Der damals 38-Jährige zeigte sich zunächst einverstanden. Beim Stellungswechsel nutzte er jedoch die Gelegenheit und zog das Verhütungsmittel ab.
Noch vor wenigen Jahren wäre eine Verurteilung des Mannes wegen eines Sexualdelikts nicht einmal in Betracht gekommen. Denn das damals 20-jährige Opfer stimmte dem Geschlechtsverkehr mit ihm zu - der Bundespolizist wurde ihr gegenüber weder gewalttätig, noch drohte er ihr. Dass er trotzdem auf der Anklagebank landete, machte die Reform des Sexualstrafrechts 2016 möglich. Der Grundsatz "Nein heißt Nein" ist seitdem fester Bestandteil des Strafrechts. Das heißt: Für einen sexuellen Übergriff braucht es keine Gewalt mehr. Ausreichend ist, dass der Täter "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" handelt.
Für die Richter aus Berlin bedeutete dies, dass ein Sexualpartner nicht nur entscheiden kann, "ob überhaupt Geschlechtsverkehr stattfinden soll, sondern auch unter welchen Voraussetzungen". Die Entscheidung, ob mit oder ohne Kondom, sei schließlich solch eine Voraussetzung. Nicht nur, weil es vor ungewollten Schwangerschaften und Krankheiten schütze, so das Gericht - auch, weil es Ausdruck des sexuellen Selbstbestimmungsrechts sei.
"Vergewaltigungsähnlich" für viele Opfer
Tatsächlich beschreiben viele Opfer das "Stealthing" als einen Angriff auf ihre Würde. Für die meisten ist der damit einhergehende Vertrauensverlust eine der schlimmsten Folgen, wie die US-amerikanische Rechtswissenschaftlerin Alexandra Brodsky 2017 in einer Studie schrieb. Die Erfahrungen der Opfer, mit denen die Juristin sprach, waren zunächst ganz unterschiedlich: Während einige der Befragten das fehlende Kondom schon während des Geschlechtsverkehrs bemerkten, wurde es anderen erst später, etwa bei der Ejakulation, bewusst. Für die meisten aber, schreibt Brodsky, fühlte sich das Erlebnis "vergewaltigungsähnlich" an.
Nun könnten "Stealthing"-Fälle in Deutschland auch rechtlich als Vergewaltigung angesehen werden. Für das Strafmaß wäre das ein enormer Unterschied: Wo Täter bisher wegen eines sexuellen Übergriffs mit Höchststrafe von fünf Jahren Haft angeklagt wurden, steht auf Vergewaltigung eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren. Wann aber wird ein "Stealthing"-Fall von einem sexuellen Übergriff zu einer Vergewaltigung? Das OHG ließ die Frage unbeantwortet.
Im Strafrecht gilt der Grundsatz, wer gegen den erkennbaren Willen einer Person mit ihr Sex hat, macht sich des sexuellen Übergriffs strafbar. Ist dieser nicht einvernehmliche Sex mit Geschlechtsverkehr verbunden, sprich dem Eindringen in den Körper, stellt das regelmäßig einen besonders schweren Fall des sexuellen Übergriffs, namentlich eine Vergewaltigung dar.
"Damit wären alle Fälle des Steahlthings automatisch eine Vergewaltigung, da der GV ohne Kondom nicht einvernehmlich ist", sagt Rechtsanwalt Alexander Stevens im Gespräch mit ntv.de "Denn, wenn wir über Geschlechtsverkehr ohne Kondom reden, liegt logischerweise immer auch ein Eindringen in den Körper vor." Der Strafrechtler sieht das kritisch. Nicht, weil es nicht strafrechtlich relevant wäre, wenn jemand beim Sex einfach das Kondom abziehe. "Eine Vergewaltigung, bei der eine Person zum Sex gezwungen wird, hat aber nochmal eine andere Qualität." Stevens plädiert daher auf einen eigenen - verhältnismäßigen - Tatbestand für "Stealthing".
Strafbarkeit "sehr subjektiv"
Ob sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung, das eigentliche Problem bei der Strafverfolgung von "Stealthing"-Fällen liegt woanders. So steht im Gesetz nirgends geschrieben, was einen "entgegenstehenden Willen" ausmacht und wann er "erkennbar" ist. Muss sich das Opfer deutlich zieren oder gar wehren? Hatte der Angeklagte die Möglichkeit, zu erkennen, dass er etwas Unrechtes tat? "Die Richter und Staatsanwälte müssen aufgrund der sehr vagen Gesetzesformulierungen im Sexualstrafrecht aus ihrer eigenen Lebenserfahrung heraus versuchen, sich vorzustellen, wie das abgelaufen ist", erklärt Stevens, der sich auf Sexualstrafrecht spezialisiert hat. Dies mache die Frage, ob überhaupt strafbares Verhalten vorliegt, "sehr subjektiv".
Wichtig sind demnach die Aussagen vor Gericht. Doch da liegt eine weitere Hürde bei Sexualtaten - sogenannten heimlichen Delikten: Oftmals steht es Aussage gegen Aussage. "Die meisten Menschen haben keine Zuschauer beim Sex", sagt Stevens. Zeugen gebe es somit in einem Großteil der Fälle nicht, Beweise wie Verletzungen oder Spermaspuren nur selten oder lassen sich, mit der Behauptung, der Geschlechtsverkehr sei einvernehmlich gewesen, zwanglos erklären. Den Richtern bliebe somit oft nicht viel mehr übrig, als zu versuchen, den Wahrheitsgehalt der Aussage des Opfers zu bewerten: Wie detailreich ist diese? Wie konstant sind die Erinnerungen? Gibt es Widersprüche?
Bei "Stealthing"-Fällen falle nun selbst diese Möglichkeit weg, sagt Stevens und erklärt: "Wenn das Opfer für eine Strafbarkeit nur noch sagen muss, dass plötzlich ein Kondom abgezogen wurde, gibt es kaum noch Stoff, die Aussage zu analysieren." Für den Angeklagten sei es zudem besonders leicht, den Vorwurf zu entkräften. Der Strafrechtler gibt ein Beispiel: "Was, wenn er nicht gemerkt hat, dass das Kondom gerissen ist? Oder wenn er dies zumindest behauptet?"
"Die meisten Fälle werden eingestellt"
Ein kurzer Moment genügt und es fallen einem hunderte solcher Begründungen ein. Ob wahr oder nicht, sie säen Zweifel an der Strafbarkeit des Angeklagten. Für Stevens müssten daher alle "Stealthing"-Fälle im Freispruch enden, schließlich lautet die wichtigste Schutzregel der Angeklagten vor Gericht: In dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten.
Anders ist es, wenn der Täter - freiwillig oder unfreiwillig - ein Geständnis ablegt. Der bereits erwähnte Bundespolizist gab in einem Chat zu, dass er das Kondom absichtlich abgezogen hat. Auch in Online-Foren protzen einige Täter mit ihrem Verhalten. Es sei "besonders geil", wenn sie nichts mitbekomme, ist nur einer von vielen Einträgen. In der Realität sind dies jedoch die wenigsten Fälle - zu Verurteilungen kommt es daher nur selten. "Meistens wird das Verfahren mangels Beweisen eingestellt", sagt Stevens.
Quelle: ntv.de