Klagemauer und Knesset geräumt Alarm in Jerusalem - Raketenbeschuss durch Hamas
10.05.2021, 17:57 Uhr
Die Lage in Jerusalem und am Tempelberg eskaliert. Am Abend heulen Warnsirenen und die israelische Armee meldet Raketenbeschuss. Ein Marsch zur Feier des gewonnenen Sechs-Tage-Kriegs wird aus Sicherheitsgründen gestrichen.
Nach Drohungen der islamistischen Hamas haben in Jerusalem die Warnsirenen geheult. Nach Angaben der Armee gab es auch in der Stadt Beit Schemesch sowie in Aschkelon Luftalarm. Medienberichten zufolge wurde die Klagemauer und das Parlament in Jerusalem geräumt. Die Abgeordneten seien in Schutzräume gebracht worden. "Soeben wurde in Jerusalem Alarm ausgelöst", teilte die Polizei am Abend mit. Hunderte jüdische Gläubige seien deshalb an der Klagemauer in Sicherheit gebracht worden.
Ein Hamas-Sprecher sagte, man habe als "Botschaft" an den israelischen Feind Raketen auf Jerusalem gefeuert. Es handele sich um eine "Reaktion auf seine Verbrechen und Aggression gegen die heilige Stadt" sowie auf Israels Vorgehen auf dem Tempelberg und in Scheich Dscharrah. Die israelische Armee teilte mit, es seien sieben Raketen abgefeuert worden. Eine davon habe die Raketenabwehr abgefangen. Nach heftigen Zusammenstößen in Jerusalem hatte der militärische Hamas-Flügel Israel zuvor ein Ultimatum gestellt. Ein Sprecher der Organisation in Gaza forderte, Israel müsse bis 18.00 Uhr Ortszeit (17.00 MEZ) alle Polizisten und Siedler vom Tempelberg sowie aus dem Viertel Scheich Dscharrah in Ost-Jerusalem abziehen. Außerdem müssten alle im Rahmen der jüngsten Konfrontationen festgenommenen Palästinenser freigelassen werden. Es handele sich um eine Warnung.
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza kamen bei einem israelischen Luftangriff im Gazastreifen neun Palästinenser ums Leben, drei davon Kinder. Eine israelische Armeesprecherin sagte, man prüfe die Berichte aus dem Gazastreifen. Den palästinensischen Angaben zufolge ereignete sich der Vorfall in Beit Hanun im Norden des Küstenstreifens. Israel reagiert auf Raketenattacken regelmäßig mit Beschuss von Zielen im Gazastreifen. Beobachter rechneten mit schweren Angriffen auf das Küstengebiet in der Nacht.
Marsch zur Feier des Sechs-Tage-Kriegs abgesagt
Vor dem Raketenbeschuss war in Jerusalem bereits ein Marsch durch die Altstadt anlässlich des israelischen Feiertags "Jerusalem-Tag" wegen der jüngsten Zusammenstöße zwischen Palästinensern und der Polizei abgesagt worden. "Der Flaggenmarsch ist abgesagt", teilte die veranstaltende Organisation am Kalavi am Nachmittag mit. Am "Jerusalem-Tag" wird in Israel traditionell der israelischen Besetzung von Ost-Jerusalem im Sechs-Tage-Krieg 1967 gedacht. Um den Marsch zu verhindern, errichteten Palästinenser Barrikaden aus Holzbrettern und Metallplatten, um die Juden am Zugang zum Tempelberg zu hindern. Die Polizei hatte jedoch bereits erklärt, Juden hätten aus Sicherheitsgründen am Montag keinen Zugang zu dem Gelände. Der Tempelberg mit dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee ist für Juden wie Muslime gleichermaßen eine heilige Stätte.
Bei jüngsten schweren Zusammenstößen zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern in Ost-Jerusalem sind bislang mehr als 300 Menschen verletzt worden. Der palästinensische Rote Halbmond meldete bis zum Mittag 305 Verletzte. 200 von ihnen mussten demnach ins Krankenhaus eingeliefert werden, fünf seien lebensgefährlich verletzt. Auf Seiten der israelischen Polizei wurden neun Beamte verletzt.
Nahe der Altstadt: Auto fährt in die Menge
Hunderte Palästinenser hatten die Polizisten in der Nähe der Al-Aksa-Moschee mit Steinen beworfen. Die Beamten reagierten mit Blendgranaten, Gummigeschossen und Tränengas. Die Polizei beschränkte den Zugang zum Platz vor der Moschee und ließ nur noch Palästinenser über 40 Jahren passieren. In der Nähe der Altstadt griffen Protestierende ein Auto mit Israelis mit Steinen an. Der Fahrer verlor daraufhin die Kontrolle über den Wagen und rammte nach Polizeiangaben mehrere Palästinenser. Als das Fahrzeug zum Stehen kam, attackierten dutzende Protestierende das Auto, bevor die Polizei die Menge mit Schüssen in die Luft auseinandertrieb.
Israel hatte den Ostteil Jerusalems im Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzt und 1980 annektiert. Die Annexion wird international nicht anerkannt. Israel erklärte ganz Jerusalem zu seiner "unteilbaren" Hauptstadt, während die Palästinenser Ost-Jerusalem zur Hauptstadt ihres eigenen Staats machen wollen.
Seit Freitag ist Ost-Jerusalem Schauplatz der schwersten Zusammenstöße seit 2017. Am Wochenende waren bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und der israelischen Polizei bereits hunderte Menschen verletzt worden. Auslöser der jüngsten Proteste ist die drohende Zwangsräumung von rund 30 Palästinensern aus ihren von Israelis beanspruchten Wohnungen im Viertel Scheich Dscharrah. Auch ein für Montag geplanter Gerichtstermin zu den Zwangsräumungen wurde angesichts der jüngsten Gewalt verschoben.
Netanjahu stärkt Polizei den Rücken
Trotz wachsender internationaler Kritik erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, er unterstütze den "gerechten Kampf" der israelischen Polizei und lobte deren "Stabilität und Standhaftigkeit". Palästinenserpräsident Mahmud Abbas verurteilte hingegen die "barbarische Aggression" Israels. Hamas-Anführer Ismail Hanijeh warnte, die radikalislamische Gruppe werde nicht untätig mit "verschränkten Armen" dasitzen.
Die Bundesregierung rief alle Beteiligten zur Deeskalation auf. "Wir fordern beide Seiten auf, jetzt dringend einen Beitrag zu leisten, um die Situation zu deeskalieren", erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Notwendig seien "Augenmaß und Zurückhaltung". Auch die US-Regierung äußerte "ernste Bedenken" angesichts der Lage in Jerusalem. Der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan rief die israelische Regierung auf, "geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Ruhe während der Feiern zum 'Jerusalem-Tag' zu gewährleisten".
Der UN-Sicherheitsrat will sich auf Antrag Tunesiens mit der Gewalt in Jerusalem befassen. Alle sechs arabischen Länder, die diplomatische Beziehungen zu Israel unterhalten - Ägypten, Jordanien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Marokko und Sudan - verurteilten das israelische Vorgehen. Auch die Türkei forderte ein Ende der Gewalt gegen die Palästinenser.
Quelle: ntv.de, mau/AFP/dpa