Knaus zu Drittstaaten-Abkommen Bei Asylverfahren in Afrika "würden alle gewinnen"
08.11.2023, 19:44 Uhr Artikel anhören
"Das Ziel ist, durch möglichst wenige Rückführungen einen möglichst großen Effekt zu erzielen", sagt Knaus zur Drittstaaten-Lösung.
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Bund und Länder wollen prüfen, ob Asylverfahren auch außerhalb Europas möglich sind. Der Migrationsforscher Gerald Knaus hält solche Abkommen mit Drittstaaten für ein wirksames Mittel gegen die irreguläre Migration und das Sterben im Mittelmeer. Wie solche Verfahren ablaufen könnten, warum auch die Herkunftsländer selbst davon profitieren würden und was Europa in der Migrationskrise von Kanada lernen kann, erklärt er im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Momentan werden verschiedene Ansätze diskutiert, um die irreguläre Migration nach Deutschland zu begrenzen. Ein Ansatz ist die sogenannte Drittstaaten-Lösung. Was ist damit gemeint?
Gerald Knaus: Die Grundidee ist, durch Rückführungen ab einem Stichtag Menschen zu entmutigen, die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer anzutreten. Und das im Einklang mit der Menschenrechts- und Flüchtlingskonvention. Man muss dafür sorgen, dass sehr schnell sehr viel weniger Menschen in Boote steigen, um nach Italien, Spanien und Griechenland zu kommen. Daran sollte jede Demokratie, auch Deutschland, ein grundlegendes Interesse haben. Ich glaube allerdings weder an Massenabschiebungen aus Deutschland, noch an deutsche oder EU-Asylzentren im Ausland.
Es geht also nicht darum, Menschen, die bereits in Deutschland angekommen sind, nach Afrika zu schicken?
Das würde nicht funktionieren. Es geht um etwas Ähnliches wie das EU-Türkei-Abkommen von 2016. Damals kamen in den ersten zehn Wochen des Jahres 150.000 Menschen in Booten aus der Türkei nach Griechenland. Nach dem 18. März konnten Ankommende zurück in die Türkei geschickt werden, die Türkei bot dies an. Es waren ein paar Hundert innerhalb weniger Wochen. Danach aber kamen im gesamten Jahr nur noch 26.000 Menschen mit Booten, und es starben im Jahr danach mehr als 1000 Menschen weniger als im Jahr davor. Das Ziel ist, durch möglichst wenige Rückführungen einen möglichst großen Effekt zu erzielen.
In der Nacht zu Dienstag haben sich Bund und Länder darauf geeinigt, prüfen zu wollen, ob Asylverfahren auch außerhalb Europas möglich sind. Ist das schon ein Erfolg?

Gerald Knaus ist Migrationsforscher und Chef der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative (ESI).
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Alle Parteien in Deutschland haben ein Interesse an Maßnahmen, die spürbar zur Reduzierung der irregulären Migration und der Zahl der Asylanträge führen. Alle demokratischen Parteien in Deutschland aber wollen zum Glück weiterhin auch den Rechtsstaat und die Menschenwürde verteidigen. Abkommen mit sicheren Drittstaaten ermöglichen beides, mit einem unmittelbaren Effekt. Wie im März 2016 oder auch im Sommer 2013 in Australien. Die Ergebnisse des Bund-Länder-Gipfels sind ein erster Schritt. Es liegt jetzt an der Regierung, den Beschluss mit Fokus und Ernsthaftigkeit umzusetzen.
Nach Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz stehen Länder derzeit nicht gerade Schlange, um sich als sicherer Drittstaat zu bewerben. Wer kommt denn da überhaupt infrage?
Er hat recht. Es ist sinnvoll, mit Ländern zu beginnen, die schon Bereitschaft signalisiert haben. Das war 2016 die Türkei und das ist heute Ruanda. Es geht dann aber darum, nicht von wenigen Ländern abhängig zu sein. Das gelingt durch den Beweis, dass ein solches Abkommen im Interesse aller Beteiligten ist. Ein historischer Paradigmenwechsel erfordert ein historisches Angebot. Damit dann auch andere afrikanische Staaten sagen: Wir wollen eine solche Kooperation auch für unsere Bürger. Nur wenn das so gesehen wird, klappt auch die Umsetzung.
Großbritannien wollte Asylsuchende nach Ruanda abschieben. Die Pläne liegen aktuell auf Eis.
Davon kann man viel lernen. Zunächst: Gerichte verteidigen die Standards der Menschenrechtskonvention. Das ist ihre Aufgabe. Und im Sommer stellte ein britisches Gericht die Qualität der Asylverfahren, die Ruanda selbst durchführt, infrage. Aber: Ruanda kooperiert seit 2019 schon mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Dieser bringt Asylsuchende aus Libyen dorthin und prüft in Ruanda Asylanträge, bisher etwa 2000 Personen. Entscheidend ist, dass Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat glaubwürdig und fair sind.
Wie könnte eine solche Drittstaaten-Lösung in der Praxis aussehen?
Deutschland redet sofort mit Italien und anderen EU-Staaten über ein gemeinsames Angebot an mögliche sichere Drittstaaten. Dann wird verhandelt. Hätten wir eine Einigung, wird jeder, der nach einem Stichtag mit dem Schiff über Tunesien oder Libyen nach Italien kommt, gerettet und registriert. Es wird geprüft, ob es einen individuellen Grund gibt, warum diese Personen im sicheren Drittstaat nicht sicher wären - die meisten werden keinen haben. Sie werden dann in diesen sicheren Drittstaat gebracht. Dort macht der UNHCR die Verfahren. Wer Schutz bekommt, bleibt entweder dort oder wird umgesiedelt. Wer abgelehnt wird oder keinen Antrag stellt, dem hilft die Internationale Organisation für Migration (IOM) bei der Rückkehr in die Heimat.
Wie könnte das die Situation im Mittelmeer verbessern?
Das Ziel ist das klare Signal: Riskiert nach dem Stichtag nicht mehr euer Leben. Wenn man die ersten paar Tausend Menschen in einen sicheren Drittstaat zurückschickt, wird die Zahl der Ankommenden schnell einbrechen. Somit werden auch insgesamt nur wenige in den Drittstaat gebracht. Das Ziel sollte null Tote im Mittelmeer sein. Jeder wird gerettet, aber wer gerettet wird, bleibt nicht in Europa. Parallel baut man die organisierte Aufnahme von Flüchtlingen durch Resettlement aus. Das ist der Paradigmenwechsel, den der Koalitionsvertrag verspricht. Es bleiben zwei Jahre, ihn umzusetzen.
Aber was hätten die Drittstaaten davon, mit der EU zu kooperieren?
Der Koalitionsvertrag spricht von legaler Mobilität für deren Bürger, für Visaerleichterungen, Stipendien, legale Arbeitskontingente, Wirtschaftshilfen. Das Ziel sollte eine Mobilitätsrevolution mit afrikanischen Partnerstaaten sein: mehr legales Reisen, schnelle Rücknahme Ausreisepflichtiger, mehr Kontakt. Das ist auch geopolitisch sinnvoll für Europa wie Afrika.
Was genau meinen Sie damit?
Im Sommer war ich mit der Außenministerin des Senegal ein paar Tage in Spanien unterwegs. Wir haben darüber gesprochen, ob es möglich wäre, dass einige Tausend Senegalesen über ein Bewerbungsverfahren nach Europa kommen, um dort zu arbeiten - anstatt in Fischerbooten über das Meer zu fahren und ihr Leben zu riskieren. Derzeit ist es so: Wer diese traumatische Reise überlebt und auf den Kanarischen Inseln ankommt, bleibt in der EU, weil es aus Spanien nach Subsahara-Afrika kaum Rückführungen gibt. Diese Menschen haben jedoch oft keinen Status, werden in die Illegalität gedrängt, werden ausgebeutet, ziehen weiter. Das ist das Gegenteil von Integration. Das könnte man stoppen, indem Senegal anbietet: Wir nehmen jeden sofort zurück. Aber dafür erhalten wir legale Möglichkeiten für Arbeitsmigration, Mobilität oder Stipendien. Ohne Tote im Atlantik.
Viele afrikanische Staaten vertrauen der EU nicht besonders. Wie kann ein solches Vertrauen zurückgewonnen werden?
Indem EU-Demokratien zeigen, dass sie es ernst meinen. Ein Beispiel dafür: Im vergangenen Jahr sind 47.000 Migranten mit Booten aus der EU nach Großbritannien gefahren. Deutschland und Frankreich, zusammen mit den Benelux-Ländern, könnten London jetzt ein Angebot machen und sagen: Wir sind für euch sichere Drittstaaten, schickt alle zurück, die den Ärmelkanal ab dem 1. Dezember irregulär überqueren. Nach einem Monat sollte niemand mehr in die Boote steigen. Im Gegenzug müsste Großbritannien 30.000 Flüchtlingen im Jahr, die schon in unseren Staaten sind, die Möglichkeit bieten, durch ein Bewerbungsverfahren nach Großbritannien zu kommen. Alle würden gewinnen. Und das Geschäftsmodell der Schmuggler wäre zerstört. So könnten Demokratien in Europa der Welt beweisen, dass sichere Drittstaaten-Abkommen im Interesse beider Seiten sind. Derzeit verhalten wir uns im Ärmelkanal so, wie die Länder Afrikas uns gegenüber. Wenn jemand in Großbritannien ankommt, sagt die EU: Das ist nicht unser Problem. Das könnte man sofort ändern.
In der Migrationsdebatte wird immer wieder Kanada angeführt. Was wird dort anders gemacht als bei uns?
Kanada schickt Migranten, die irregulär ins Land kommen, zurück in einen sicheren Drittstaat, nämlich in die USA. Und die nehmen sie. Aber Kanada nimmt auch jedes Jahr 50.000 Flüchtlinge direkt aus den Herkunftsregionen auf. Diese Menschen kommen legal, ganze Familien, die nicht ihr Leben riskieren. Sie wissen auch, dass sie dann in Kanada bleiben können. Für die Integration ist das ein Riesenvorteil, sie warten nicht jahrelang auf eine Entscheidung. Und man erspart Zehntausenden den grauenhaften Weg der Flucht. So kommen auch Frauen und Kinder, die sich aufgrund der Gefahr derzeit nicht durch die Sahara nach Libyen trauen.
Wie werden diese Menschen ausgewählt?
In Kanada spielt die Zivilgesellschaft eine Schlüsselrolle. Das ist eingespielt. Kanadier können sagen: Wir kennen da eine Flüchtlingsfamilie, ich habe von ihr gehört oder gelesen, die benötigen Schutz. Wir wollen uns als Paten um sie kümmern. Bei diesem System prüft der kanadische Staat zunächst Hintergrund und Flüchtlingsstatus. Es gibt Interviews durch kanadische Beamte, vor Ort oder per Video. Wenn es keine Einwände gibt, fliegen diese Menschen dann nach Kanada und können sich vom ersten Tag an integrieren. Das ist ein unendlich humaneres System als das, was wir in Europa haben. Und es verspricht Kontrolle.
Und was ist mit Menschen, die keine Paten in Kanada finden?
Theoretisch können sich Menschen mit einem Asylgrund beim UNHCR melden. Doch der UNHCR ist davon abhängig, dass Staaten Plätze anbieten. Solche Angebote gehen seit Jahren zurück. Wenn mehr Länder einen Mechanismus wie in Kanada hätten, könnte der UNHCR auch die eigenen Strukturen für legale Aufnahme wieder ausbauen. Wie in den 1980er Jahren für die vietnamesischen Bootsflüchtlinge.
Mit Gerald Knaus sprach Miriam Pauli.
Quelle: ntv.de