Mord auf dem Drogenschlachtfeld Blei in Ecuador, Kokain in Deutschland


Fernando Villavicencio mit Fahne: ein Dorn im Fleisch der Korrupten
(Foto: dpa)
Aus keinem anderen Land kommt mehr Kokain nach Europa als aus Ecuador. Drogenkartelle treiben die Mordrate auf Rekordniveau. Ein Präsidentschaftskandidat wurde von Kugeln durchsiebt. Er hatte die Kriminellen öffentlich kritisiert. Wer ist verantwortlich?
Alle Transparenz und Polizeischutz halfen nicht: Der ecuadorianische Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio ist seit Mittwoch tot, nun wurde er beerdigt. Der frühere Investigativjournalist hatte zuvor tagelang von Todesdrohungen gegen sich und seine Mitarbeiter öffentlich gesprochen. Die ecuadorianische Polizei ermittelt gemeinsam mit dem US-amerikanischen FBI: Wer steckt dahinter? Wer hatte welches Interesse an Villavicencios Ableben?
Geplant war es, so viel ist sicher: Um 18.20 Uhr verlässt Villavicencio in einer Schule in der Hauptstadt Quito eine Wahlkampfveranstaltung. Sicherheitsleute geleiten ihn zu einem weißen Pickup. Er ist kaum eingestiegen, da durchlöchert ein Angreifer den 59-jährigen Politiker durch das gegenüberliegende, nicht verdunkelte Autofenster mit etwa 40 Schüssen. Die Sicherheitskräfte schießen auf den Attentäter, der später an seinen Verletzungen stirbt.
Villavicencio ist das bislang bekannteste Opfer einer anwachsenden Gewaltwelle, die das südamerikanische Land am Pazifik seit mehreren Jahren überrollt. Seit 2018 hat sich die Mordrate auf einen historischen Höchststand vervierfacht. Auch 2023 wird voraussichtlich mit einem neuen Negativrekord enden. Verantwortlich sind insbesondere mexikanische, international agierende Drogenkartelle und ihre ecuadorianischen Verbündeten. Im vergangenen Jahr verhängte die Regierung den Ausnahmezustand für die drei Küstenregionen mit Drogenrouten bis zur wichtigen Hafenstadt Guayaquil. Nun gilt er für ganz Ecuador.
Mafia vom Balkan in Export verwickelt
In keinem Land der Welt werden so viel Kokain und Variationen pro Einwohner bewegt wie in Ecuador. Das Land am Pazifik hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Schlüsselexporteur für die Drogen entwickelt - sowohl in Richtung USA, als auch nach West- und Zentraleuropa. Für den Versand nach Europa ist Ecuador laut der UN-Antidrogenbehörde UNDOC gar zum wichtigsten Umschlagplatz geworden.
Eine Schlüsselrolle nimmt laut Ermittlern die albanische Mafia ein, deren Mitglieder in Ecuador den Export und in den Niederlanden den Import mitorganisieren. 30 Prozent der in Europa abgefangenen Lieferungen kamen aus dem Land am Pazifik. Bemessen an beschlagnahmten Mengen der Nordseeroute sind Antwerpen, Rotterdam und Hamburg die wichtigsten Landehäfen. Eine zweite Route führt nach Portugal und Spanien.
Der Anbau der Kokapflanze in Südamerika - so wird die potenzielle Produktionsmenge geschätzt - hat sich zwischen 2013 und 2021 fast verdreifacht. Fast die gesamte Welt wird von Bolivien, Kolumbien und Peru versorgt. Auch in Kolumbiens südlichen Provinzen Putumayo und Nariño wird Kokain produziert, sie grenzen an Ecuador. Die bergigen Dschungelregionen sind für Schmuggler ein offenes Tor.
Villavicencio hatte einen Wahlkampf gegen die "Narco-Politik" geführt, schimpfte auf eine "kriminelle Wirtschaft, die von Drogenschmuggel und illegalem Bergbau finanziert wird", sowie "Bestechung und Korruption im öffentlichen Sektor". Als er in der vergangenen Woche die Todesdrohungen erhielt, sagte er: "Ich habe keine Angst." Womöglich kostete ihn dies das Leben.
Als Drahtzieher des Mordes verdächtig sind deshalb bewaffnete Gruppen, die in Ecuador um Einfluss und Einnahmen aus dem Kokainhandel kämpfen. Vor allem dort, wo sie um die Transportrouten konkurrieren: von der Grenze des größten Produzentenlandes Kolumbien bis in die Großstadt Guayaquil und ihrem wichtigen Seehafen. Schätzungen zufolge werden bis zu 800 Tonnen Kokain jährlich von Ecuador aus auf die Reise geschickt. Das Land ist zum Drogenschlachtfeld geworden.
Korruption und "wechselseitiger Tod"
Dutzende Menschen sind während des Wahlkampfes bereits getötet worden, darunter ein Bürgermeister und ein Parlamentskandidat. Es kam auch zu Gefängnisaufständen und Bombenattentaten. Villavicencio hatte öffentlich das kriminelle Netzwerk "Los Choneros" und ihren Kopf "Fito" der erhaltenen Todesdrohungen bezichtigt. Die Choneros sind unter anderem im Drogenschmuggel aktiv und mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell verbündet, eines des mächtigsten im Kokaingeschäft der Amerikas. Sie sind verfeindet mit dem anderen großen mexikanischen Kartell, "Jalisco der Neuen Generation", das mit weiteren kriminellen Gruppen in Ecuador zusammenarbeitet.
Mit Jalisco verbündet sind unter anderen "Los Lobos", die Wölfe: Vermummte bekannten sich nach dem Mord in einem Video zum Mord am Politiker und bezeichneten sich als deren Mitglieder - was andere, ohne Vermummung und in friedfertigem Weiß, in einem folgenden Video wiederum dementierten. Die Polizei hat am Freitag sechs Verdächtige aus Kolumbien festgenommen. Das US-amerikanische FBI soll bei den Ermittlungen über die Hintergründe der Tat helfen. Womöglich, um die Verstrickungen der auch in den USA aktiven mexikanischen Kartelle zu untersuchen.
Laut der UN-Antidrogenbehörde UNDOC ist die Kokainproduktion auf einem Rekordniveau; die Herstellung wird effektiver, der Schmuggel vielseitiger. Zugleich vergrößern sich demnach die Nachfrage und der Umfang der beschlagnahmten Drogen. In Ecuador haben das mexikanische Sinaloa-Kartell sowie das konkurrierende "Jalisco der neuen Generation" für die USA, die dort auch die Verteilung organisieren, sowie Mafias vom Balkan für Europa die Hand auf den Exportrouten.
Furchtloser Korruptionsjäger und Kandidat
Die Präsidentschaftswahlen Ecuadors finden am 20. August statt, und zwar nur deshalb, weil eine Kommission unter Villavicencios Vorsitz den amtierenden Präsidenten Guillermo Lasso der Veruntreuung öffentlicher Gelder bezichtigt hatte. Vor der Abstimmung über dessen Amtsenthebung zog Lasso im Mai das letzte Ass aus dem Ärmel, löste das Parlament und damit auch Neuwahlen für die Präsidentschaft aus. Der sogenannte wechselseitige Tod ("muerte cruzada"), verschaffte ihm ein weiteres halbes Jahr an der Staatsspitze.
Villavicencio hatte bereits den früheren Präsidenten Rafael Correa der Korruption überführt. Er wirkte in einer Untersuchung zur Aufdeckung eines umfangreichen Korruptionsnetzwerks mit, in das Correa verwickelt war. Correa hatte das Land zwischen 2007 und 2017 regiert, ihm wurde infolge der Recherchen der Prozess gemacht. Doch der Ex-Präsident floh nach Belgien. In Abwesenheit wurde er zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Präsidentschaftswahl findet wie geplant statt. Für einen Sieg im ersten Wahlgang sind mindestens 40 Prozent der Stimmen und 10 Prozent Abstand auf den Zweitplatzierten nötig, ansonsten kommt es zur Stichwahl. Die letzten Umfragen durften am 9. August veröffentlicht werden. Rund die Hälfte der Wähler zeigten sich unentschieden, wem sie ihre Stimme geben würden. Führend war die Kandidatin, die Correa nahesteht. Villavicencio war einer der fünf populärsten Anwärter.
Quelle: ntv.de