Politik

Gouverneur hat Fragen an Moskau Darum ist die russische Grenze so löchrig

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15 Monate nach Beginn des Kriegs finden aktive Kampfhandlungen inzwischen auch in Russland statt.

(Foto: via REUTERS)

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Als wenige Dutzend Partisanen die russische Region Belgorod angreifen, wirkt die Kreml-Armee überrumpelt. Erst einen Tag später gelingt es ihr, die Kämpfer zurückzudrängen. Mehrere Tausend Verteidiger und eine teure Verteidigungsanlage erweisen sich als nutzlos. Der Gouverneur der Region hat "viele Fragen" an Moskau.

Am frühen Morgen des 22. Mai dringen pro-ukrainische Kämpfer in die russische Grenzregion Belgorod ein und rücken rund neun Kilometer ins Landesinnere vor. Erst einen Tag später kann die russische Armee die wenigen Dutzend Partisanen auf das ukrainische Staatsgebiet zurückdrängen. Was die Aktion zeigt: Die russischen Grenzgebiete sind offenbar schlecht geschützt. "Sabotage-Gruppen durchqueren die Region Belgorod in aller Ruhe", bemängelte etwa der Chef der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, in einem Interview.

Einer der Teilnehmer der Aktion sagte der oppositionellen Zeitung "Nowaja Gaseta Ewropa", der Grenzübergang sei zwar gut befestigt gewesen. "Aber als wir in Begleitung eines Panzers in den Angriff gingen, liefen alle Verteidiger weg." Einer der Grenzsoldaten sei dabei gestorben, ein weiterer gefangen genommen worden. Die russischen Streitkräfte seien erst mehrere Stunden nach dem Angriff "aufgewacht": Sie hätten ihre Einheiten, Artillerie und Flugzeuge herangezogen und mit dem Beschuss begonnen. Dabei hätten sie auf Wohnbezirke geschossen, wo sich die Kämpfer tatsächlich befunden hätten, aber auch auf Gebäude, "von denen sie glaubten, dass wir sie eingenommen haben - das FSB-Büro, die Polizeistation und die Stadtverwaltung". Unabhängig lassen sich diese Angaben nicht überprüfen.

Partisanen kündigen weitere Angriffe an

In einer Pressekonferenz nach der Rückkehr in die Ukraine sprach die Legion "Freiheit Russlands", die an der Operation teilnahm, ebenfalls von dem offenbar planlosen Vorgehen der russischen Armee: "Wir haben die Skrupellosigkeit und Grausamkeit von Putins Truppen erlebt: Während die Legionäre durch bewohnte Gebiete zogen, ohne die Anwohner auch nur zu berühren, griffen die Artillerie und die Luftstreitkräfte der russischen Armee friedliche Städte an", behauptete ein Sprecher der Einheit, die aus russischen Putin-Gegnern besteht und den ukrainischen Streitkräften angehört.

Das russische Verteidigungsministerium hatte am Mittwoch mitgeteilt, das Militär habe "mehr als 70 Terroristen" getötet. Die Milizen, die an dem Angriff teilgenommen haben, wiesen Moskaus Angaben zurück. Bei der Pressekonferenz gab das "Russische Freiwilligenkorps" (RDK) an, dass lediglich zwei seiner Kämpfer leicht verletzt worden seien. Die Gruppe, in der unter anderem russische Rechtsextreme aktiv sind, kämpft an der Seite der Ukraine gegen die Kreml-Truppen. Sie ist aber nicht Teil der ukrainischen Streitkräfte. Die Legion "Freiheit Russlands" sprach von zwei Toten und zehn Verwundeten in eigenen Reihen.

Das RDK pries die Aktion als "Erfolg" und kündigte weitere Überfälle auf das russische Staatsgebiet an. Der Einheit sei es gelungen, "einige Waffen", darunter einen Schützenpanzer, zu beschlagnahmen und Gefangene zu machen. "Ich denke, dass Sie uns auf dieser Seite wiedersehen werden", sagte ein Sprecher des "Freiwilligenkorps".

"Eigene Grenze besser schützen, statt Soldaten an die Front zu schicken"

Doch wie kommt es dazu, dass die russische Armee mitten im Krieg von einem eher kleinen Angriff überrumpelt wird, dass die Grenzregion so schwach geschützt ist? Die Legion "Freiheit Russlands" sieht den Grund darin, dass das russische Militär durch den Angriff auf das Nachbarland keine Ressourcen habe, um das eigene Staatsgebiet zu beschützen. Russland habe "keine Reserven, um auf militärische Krisen zu reagieren", hieß es am Dienstag in einer Mitteilung der Gruppe auf Telegram. Alle Militärangehörigen seien tot, verwundet oder im Kampfgebiet in der Ukraine eingesetzt.

Nach Ansicht des ukrainischen Militärexperten Oleksij Melnyk wird die russische Armee durch die Angriffe auf russisches Territorium gezwungen, die eigene Truppenstärke in der Ukraine zu reduzieren. "Es geht überwiegend darum, dass Russland als Ergebnis solcher Aktionen die eigene international anerkannte Grenze besser schützen muss, statt weitere Soldaten an die Front zu schicken", sagte der ehemalige Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums ntv.de.

Belgorod-Verteidiger haben keine Waffen

Nach Angaben des Gouverneurs der Region, Wjatscheslaw Gladkow, gibt es entlang der Grenze sieben Selbstverteidigungsbataillone, insgesamt "fast dreitausend Mann" stark. "Sie werden seit November letzten Jahres ausgebildet", erklärte der Politiker in sozialen Netzwerken. "Es handelt sich um kampffähige Einheiten, die Ausrüstung wurde bereits geliefert."

Doch warum konnten sie die Angreifer nicht aufhalten? "Das einzige Problem ist, dass die Frage der Bewaffnung im Zusammenhang mit der geltenden Gesetzgebung noch nicht geklärt ist", sagte Gladkow auf die Frage eines Einwohners der Region. Sprich: Die angeblich fast dreitausend Mann, die die Grenzregion verteidigen sollen, haben schlicht keine Waffen. Der Gouverneur fügte hinzu, dass die regionalen Behörden "nach einer Rechtsgrundlage" für die Bereitstellung von Waffen an die Soldaten suchen, gleichzeitig aber verpflichtet seien, "im Rahmen der Gesetze zu handeln".

Unausgebildete Wehrpflichtige sollen die Grenze verteidigen

Derweil berichtete das regierungskritische Medium "7x7", seit Anfang September 2022 würden unausgebildete Wehrpflichtige massenhaft in die Region Belgorod geschickt, um dort als Grenzschützer eingesetzt zu werden. Eine solche Praxis ist formell kein Gesetzesverstoß, da die Wehrpflichtigen sich ja auf russischem Staatsgebiet befinden und nicht Teil der "Spezialoperation" sind. Sie gerieten jedoch regelmäßig unter Beschuss. Mindestens sieben junge Wehrpflichtige sind laut dem Bericht seit Beginn des Krieges auf diese Weise getötet worden.

In den vergangenen Monaten kam es immer wieder zu Angriffen auf russisches Staatsgebiet. Aufgrund der angespannten Lage in der Region Belgorod kündigte Gladkow im November 2022 den Bau eines umgerechnet rund 115 Millionen Euro teuren Systems von Verteidigungsanlagen an der Grenze zur Ukraine an. Im März gab der Gouverneur bekannt, der Bau sei abgeschlossen.

Die Fragen eines Bürgers, warum die Grenze "löchrig" sei und warum "der Feind" trotz der errichteten Sperrlinie praktisch ohne Gegenwehr so weit vorrücken konnte, konnte Gladkow in einem Livestream am Dienstagabend nicht beantworten. "Wie konnte das passieren? Ich denke, die Ermittlungsbehörden werden es herausfinden", sagte der Gouverneur. Er teile die Aufregung der Einwohner, erklärte Gladkow: "Ich habe noch mehr Fragen an das Verteidigungsministerium als Sie."

Quelle: ntv.de

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