Viele Fragen im Fall Sami A. Den Richtigen falsch abgeschoben
16.08.2018, 19:33 Uhr
Sami A. wurde nach Tunesien abgeschoben - nun soll er zurückgeholt werden.
Die Affäre um Sami A. löst zwischen Politik und Justiz eine Debatte über die Gewaltenteilung in Deutschland aus. Während der Druck auf die zuständigen Minister steigt, bleibt eine Rückkehr A.s ungewiss. n-tv.de klärt die wichtigsten Fragen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass Sami A. nach Deutschland zurückkehrt?
Zunächst sind jetzt die tunesischen Behörden gefragt. In Tunesien kann sich Sami A. zwar derzeit frei bewegen, ermittelt wird dort trotzdem noch gegen ihn. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Bevor Sami A. wieder zurück nach Deutschland reisen kann, muss Tunesien die Ermittlungen gegen ihn einstellen, ihm seinen Pass zurückgeben und die Erlaubnis zur Ausreise erteilen. "Erst wenn das geschehen ist, wird Deutschland parallel zu diesem Verfahren tätig werden", sagt Stefan Engstfeld, Rechtsexperte der Grünen in NRW, im Gespräch mit n-tv.de. Konkret muss die Stadt Bochum dem 42-Jährigen eine Betretenserlaubnis ausstellen, weil noch immer eine Wiedereinreisesperre gegen ihn vorliegt. Das Auswärtige Amt muss zusätzlich ein Visum ausstellen.
Was passiert, wenn Sami A. wieder in Deutschland ist?
In diesem Fall fürchtet die Gewerkschaft der Polizei, der 42-Jährige könnte die Gelegenheit nutzen und abtauchen. "Natürlich muss er auch damit rechnen, dass er in einem zweiten Verfahren erneut abgeschoben wird", sagte der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Arnold Plickert, der Deutschen Presse-Agentur. Die Sorge, dass er die verbleibende Zeit bis zum Gerichtsbeschluss zu einem Anschlag nutzen könnte, sei "nicht vom Tisch zu wischen". Bereits vor seiner Abschiebung Mitte Juli habe A. unter Beobachtung gestanden. Sollte er nach einer Risikoanalyse in die höchste Kategorie der Gefährder eingestuft werden, wären insgesamt etwa 30 Polizisten für die Observation nötig.
Welche Behörde wäre nach der Rückkehr für Sami A. zuständig?
Die Hauptverantwortung liegt dann bei der Stadt Bochum. Sofort nach seiner Rückkehr müsste sich A. bei der dortigen Ausländerbehörde melden. Eine Aufenthaltserlaubnis bekäme er allerdings nicht, sondern lediglich eine Duldung für die Dauer seines Verfahrens.
Wer übernimmt die Kosten für die Rückholung?
Das Oberverwaltungsgericht (OVG) hat die Stadt Bochum dazu verpflichtet, die Kosten zu übernehmen. Auf Nachfrage von n-tv.de bestätigte Stadtsprecher Thomas Sprenger, dass der Anwältin von A. die Kostenübernahme für den Flug zugesichert werde. Wie der Tunesier dann nach Deutschland kommt, ist laut Sprenger allerdings noch nicht geklärt - die Frage ist unter anderem, ob er eventuell von Polizisten begleitet werden muss. Von solchen Umständen hängt auch die Höhe des erforderlichen Betrags ab. Die Zusage bedeute aber nicht, "dass Sami A. erster Klasse über Honolulu nach Deutschland einfliegen" könne, so Sprenger. Schon die Abschiebung von A. Mitte Juli per Charterflug kostete laut Bundespolizei 34.848 Euro.
Was passiert mit der Familie von Sami A.?
Vor seiner Abschiebung lebte Sami A. gemeinsam mit seiner Familie in Bochum. Seine Ehefrau und die vier Kinder besitzen sowohl die deutsche als auch die tunesische Staatsangehörigkeit. Ob sie sich nach wie vor dort aufhalten, konnte der Bochumer Stadtsprecher nicht beantworten. Nach Angaben seines Anwalts Seif Eddine Makhlouf will der Islamist aber schnellstmöglich zu seiner Familie zurückkehren.
Warum streiten sich Behörden und Gerichte überhaupt im Fall Sami A.?
In der zentralen Frage herrscht eigentlich Einigkeit: Sowohl Justiz als auch die Behörden sehen es als erwiesen an, dass Sami A. die Terrororganisation Al-Kaida unterstützt hat und zeitweise einer der Leibwächter von Osama bin Laden war. Die Stadt Bochum hält Sami A. weiterhin für eine Gefahr. Bundesinnenminister Horst Seehofer drängte mehrmals auf eine rasche Abschiebung - und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ordnete sie am 20. Juni auch an. Vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ging Sami A. aber gegen seine Abschiebung vor. Während des laufenden Verfahrens durfte der Tunesier nach Recht und Gesetz nicht abgeschoben werden. Mitte Juli wurde er dennoch in einen Flieger gesetzt, obwohl das Gericht einen Tag zuvor ein Abschiebeverbot verhängt hatte. Der Bescheid kam erst bei den Behörden an, als A. schon in der Luft war. Nun streiten sich Behörden und Justiz darüber, ob die Abschiebung rechtswidrig war.
Was ist der Standpunkt der Justiz?
Die Gerichte mehrerer Instanzen fordern, Sami A. aus Tunesien zurückzuholen. Sie gehen davon aus, dass dem Islamisten in seiner Heimat Folter droht. Eine Beschwerde des Bamf gegen das Abschiebeverbot lehnte das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen vergangene Woche ab. "Nach nochmaliger Überprüfung der Sach- und Rechtslage" sei die Kammer zum gleichen Schluss gekommen: Sami A. müsse in Tunesien eine "menschenrechtswidrige Behandlung" fürchten. Auch Bochum scheiterte vor dem OVG mit einer Beschwerde gegen dessen Rückholbeschluss. Politik und Behörden wirft Nordrhein-Westfalens oberste Richterin, Ricarda Brandts, nun fehlenden Respekt vor der Gewaltenteilung vor - und beklagt die Beschädigung des Vertrauensverhältnisses zwischen Behörden und Justiz.
Was ist der Standpunkt von Politik und Behörden?
Das Bamf sieht nach wie vor keine Gefahr für Sami A. in seiner Heimat. Das Amt argumentiert mit der Tatsache, dass er seit seiner Rückkehr nach Tunesien weder gefoltert wurde noch, dass ihm etwas Derartiges drohe. Den Vorwurf, das Bamf und die Landesbehörden hätten die Gelsenkirchener Richter bewusst über den unmittelbar bevorstehenden Abschiebetermin im Dunkeln gelassen, wies NRW-Ministerpräsident Armin Laschet zurück. Er erklärte, man könne "froh sein, dass der Gefährder nicht mehr in Deutschland ist". Dass Sami A. nun wieder einreisen darf, stößt bei Politik und Behörden auf blankes Unverständnis. NRW-Innenminister Herbert Reul von der CDU fordert deshalb, Richter sollten bei ihren Entscheidungen immer auch das "Rechtsempfinden der Bevölkerung" im Blick haben. Vor allem konservative Politiker sehen im Fall Sami A. einen Offenbarungseid für die Glaubwürdigkeit des Staates.
Droht Sami A. in Tunesien tatsächlich Folter?
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch berichten immer wieder über Fälle von Folter durch die tunesische Polizei und Sicherheitskräfte. Systematische Folter wie noch zu Zeiten von Diktator Ben Ali gebe es zwar nicht mehr. Doch vereinzelt würden, mit Verweis auf die nationale Sicherheit, durchaus noch zu brutale Verhörmethoden praktiziert. Im Fall von Sami A. bot das Verwaltungsgericht den Behörden aber einen Kompromiss an. "Er hätte rechtlich sauber durch eine sogenannte Verbalnote abgeschoben werden können", sagt Engstfeld n-tv.de. Mit dem Schriftstück hätte die tunesische Seite dem Gericht garantiert, dass A. im Gefängnis nicht gefoltert wird. Hätte diese Verbalnote am 13. Juni vorgelegen, wäre der Fall schnell geregelt gewesen. Sami A. war zu diesem Zeitpunkt keine Gefahr mehr für die Bevölkerung, er hätte noch bis zum 25. September in Abschiebehaft gesessen. "Warum trotzdem Gerichte ausgetrickst und rechtsstaatliche Verfahren über Bord geworfen worden sind, ist mir schleierhaft", sagt Engstfeld.
Welche politischen Konsequenzen hat der Fall?
Vor allem für NRW-Integrationsminister Joachim Stamp könnte der Fall Konsequenzen haben. Sowohl aus Justiz- als auch Oppositionskreisen hagelt es Kritik. Stamp habe "an mehreren Stellen rechtsstaatliche Prinzipien ignoriert und das Gericht klar getäuscht", sagte Engstfeld im Gespräch mit n-tv.de. "Der Schwachsinn, den wir jetzt haben, liegt in seiner Verantwortung. Deswegen fordere ich seinen Rücktritt." Ein Nachspiel könnte die Sache aber auch für Seehofer haben: Denn die vom Verwaltungsgericht geforderte Verbalnote aus Tunesien beizubringen, hätte auch in seiner Verantwortung gelegen. Der Minister sei schnell mit "starken Sprüchen" unterwegs, kritsierte FDP-Parteivize Wolfgang Kubicki laut Reuters. Wenn es jedoch um die Umsetzung gehe, befinde er sich auf der "Versagerstraße". Nicht nur die FDP sieht jetzt Seehofer und Bundesaußenminister Heiko Maas in der Pflicht. "Die Bundesregierung muss jetzt alles in ihrer Macht stehende dafür tun, dass Tunesien eine Verbalnote ausspricht, damit Sami A. endlich rechtssicher abgeschoben werden kann", mahnt auch Engstfeld. "Denn niemand legt Wert darauf, dass er hierzulande frei herumläuft."
Quelle: ntv.de