Militärisches Patt Der Krieg in der Ukraine wird noch lange dauern
05.04.2023, 16:12 Uhr Artikel anhören
Ukrainische Soldaten feuern in der Nähe von Bachmut auf russische Stellungen, Bild vom 26. März.
(Foto: AP)
Kein Kriegsherr will einen "langen Krieg", doch in Konflikten entstehen immer wieder Situationen, die ihre schnelle Beendigung unmöglich machen. Der Krieg in der Ukraine könnte dafür ein Beispiel sein.
Wladimir Putins Hoffnung auf einen schnellen Sieg und die Auslöschung der Ukraine zerschlugen sich bereits innerhalb weniger Tage. Als seine Panzer auf dem Weg nach Kiew kehrtmachen mussten, stand fest: Russland kann diesen Krieg nicht gewinnen - zumindest nicht auf Grundlage seiner ursprünglichen Ziele.
Doch auch für die Ukraine gab es Enttäuschungen. Gleich am Anfang hieß es, Putin sei tödlich krank. Danach, dass die westlichen Wirtschaftssanktionen Russland innerhalb weniger Monate in die Knie zwingen würden. Und später, dass den Russen die Munition ausgehe, ihre Panzer veraltet seien, die Moral an der Front zusammenbreche und jeder noch so kleine Sieg viel teurer erkauft sei. Erst vor ein paar Tagen war - wieder mal - zu lesen, dass die letzte russische Offensive gescheitert sei.
Und dennoch geht der Krieg weiter. Die Frontverläufe verändern sich seit Monaten nur minimal. Der Konflikt steuert nicht, wie manchmal behauptet, auf ein Patt zu. Er ist bereits in einem.
Patt
Wichtigster Grund ist, dass Russland - trotz aller Schwierigkeiten - ein großes Land mit erheblichen Reserven an Material und jungen Männern ist. Auch wenn es jeden noch so kleinen Sieg "teuer erkauft", und selbst wenn die russische Wirtschaft unter der aktuellen Situation leidet, kann das Land diesen Konflikt wahrscheinlich noch eine ganze Weile verkraften.
Hinzu kommt, dass Putin momentan keine ernsthafte Gefahr droht. Trotz aller Spekulationen gibt es in seinem Umfeld niemanden, der mächtig genug ist, ihn zu stürzen. Und auch die Bevölkerung hält still. "Es gibt keine Demonstrationen für den Krieg. Aber auch keine gegen ihn", so die Russland-Expertin Sabine Adler.
Putin kann sich nur eines nicht leisten: diesen Krieg zu verlieren.
Ähnliches gilt natürlich - und in noch stärkerem Maße - für die Ukraine. Sie ist Opfer dieses Krieges. Im Gegensatz zu Russland geht es ihr nicht um das Überleben einer einzelnen Person, sondern um das der gesamten Nation. Wenn überhaupt, dann hat Putins brutaler Krieg ihre Moral und Entschlossenheit noch gestärkt.
Solange der Westen sie militärisch unterstützt, kann die Ukraine ihr Territorium weiter verteidigen. Ein Kompromiss mit Putin, der Kriegsverbrechen und den Tod von so vielen Ukrainern zu verantworten hat, ist zu diesem Zeitpunkt weder notwendig noch überhaupt vorstellbar.
Westliche Optionen
An dieser Konstellation lässt sich so schnell nichts ändern. Um Russland aus der Balance zu bringen, bräuchte es nicht nur mehr Waffen und Munition, sondern einen strategischen "Gamechanger", wie etwa Angriffe auf russisches Territorium. Aber das würde die westliche Allianz spalten, und Russland könnte im Gegenzug ebenfalls an der Eskalationsschraube drehen. Noch nicht einmal Washington will das.
Auch ein Ende der westlichen Unterstützung brächte keinen Frieden. Nicht Verhandlungen wären die Folge, sondern ein russischer Sieg, denn auf sich allein gestellt könnte die Ukraine dem Angriff nicht lange standhalten; und die russische Armee stünde innerhalb weniger Wochen an der Grenze zu Polen. Der Krieg wäre damit zu Ende, doch ein neuer, noch größerer Konflikt drohte dann zu beginnen.
Ein später Verhandlungsfrieden
Alle Zeichen stehen also auf einem langen Krieg. Die gute Nachricht: Wenn der Westen standhaft bleibt, wird Russland möglicherweise irgendwann den Punkt erreichen, an dem es wirtschaftlich, militärisch oder politisch nicht mehr kann.
Die schlechte Nachricht: Bis dahin könnten noch Jahre vergehen, denn Großmächte gewinnen ihre Kriege zwar nicht immer, aber sie halten meist lange durch. Nach der sowjetischen Invasion von Afghanistan im Jahr 1979 dauerte es fast zehn Jahre, bis Moskau seine Niederlage zugab. Die Amerikaner in Vietnam brauchten fünfzehn. Und der Westen in Afghanistan knapp zwanzig.
Einige Neokonservative argumentieren, dass der Sturz Putins und ein anschließender Zerfall Russlands gar nicht so schlimm seien. Doch am Ende läuft es vermutlich auf Verhandlungen hinaus, weil niemand die Verantwortung für eine im Chaos versinkende Atommacht mit 140 Millionen Einwohnern übernehmen will. Wie die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff gezeigt hat, endet die Hälfte aller zwischenstaatlichen Konflikte so.
Was der Westen jetzt tun kann
Für die Ukraine wäre das bitter, denn das Sterben würde auf absehbare Zeit weitergehen, und auch sie - als Opfer - müsste in letzter Konsequenz wahrscheinlich ein paar Kröten schlucken. Es ist deshalb zu hoffen, dass sich die strategischen Parameter doch noch zu ihren Gunsten wenden.
Ebenso wichtig ist allerdings, dass sich der Westen auf einen langen Krieg vorbereitet. Das bedeutet: die militärische Unterstützung der Ukraine dauerhaft zu machen; den Wiederaufbau in sicheren Teilen des Landes voranzutreiben; und Flüchtlinge in ganz Europa zu verteilen.
Entscheidend ist auch, was Wolfgang Ischinger vor kurzem gefordert hat, nämlich Verhandlungen vorzubereiten, die den Krieg - sobald es möglich ist - zu einem schnellen Ende bringen. Das wäre kein Verrat an der Ukraine, sondern Voraussetzung und Chance für einen dauerhaften Frieden in Europa.
Peter R. Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London. Er hat in Kriegswissenschaft (War Studies) promoviert. Sein aktuelles Buch ist Die neue Weltunordnung (Rowohlt 2022).
Quelle: ntv.de