Der Kriegstag im Überblick Moskau will Cherson-Brückenkopf aufgeben - Kiew weist neues Gesprächsangebot zurück
10.11.2022, 14:58 Uhr
Russische Kämpfer in der Region Luhansk im Einsatz.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Die Ukraine kommt der Befreiung der Region Cherson offenbar ein Stück näher. Denn Russlands Verteidigungsminister Schoigu ordnet die Aufgabe des Brückenkopfes am westlichen Ufer des Dnipro an. Unterdessen kommt eine Führungsfigur der russischen Besatzungsverwaltung von Cherson ums Leben. Der 259. Kriegstag im Überblick.
Vize-Chef der Besatzungsverwaltung von Cherson ist tot
Der von Russland eingesetzte Vize-Verwaltungschef der besetzten Region Cherson, Kirill Stremousow, ist tot. Stremousow sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, sagte Besatzungschefe Wladimir Saldo in einem Video auf Telegram. Wie die Agentur Interfax unter Berufung auf die Behörden meldet, ereignete sich das Unglück auf der Autobahn zwischen der Stadt Cherson und der Stadt Armjansk auf der Halbinsel Krim. Stremousow verbreitete bis zuletzt auf seinem Telegram-Kanal Durchhalteparolen, war aber selbst längst aus der Gebietshauptstadt Cherson geflohen. Ein Foto, das ihn mit seiner Familie zeigt und das er auf Telegram postete, wurde in einem Tierpark auf der Krim aufgenommen, wie das Verifizierungsteam von ntv bestätigte.
Russland verkündet Rückzug im Süden
Wenige Stunden nach Bekanntwerden der Nachricht vom Tod Stremousows gab Moskau den Abzug der russischen Truppen aus der ukrainischen Stadt Cherson und Teilen der gleichnamigen Region bekannt. Verteidigungsminister Sergej Schoigu ordnete im Staatsfernsehen die Räumung des westlichen Ufers des Flusses Dnipro an. "Das Leben und die Gesundheit der Soldaten der Russischen Föderation waren immer eine Priorität", sagte Schoigu zur Begründung. Mit dem Rückzug verliert Russland im Süden die Kontrolle über die einzige ukrainische Gebietshauptstadt, die es seit Beginn des Angriffskriegs Ende Februar eroberte.
Die Führung in Kiew reagierte skeptisch auf die Ankündigung des Kreml. "Die Ukraine sieht keine Anzeichen dafür, dass Russland Cherson ohne Kampf aufgibt", schrieb der Berater des Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, auf Twitter. "Die Ukraine befreit Territorien, indem sie sich auf Aufklärungsdaten und nicht auf inszenierte TV-Ansagen verlässt", so Podoljak weiter.
Kiew weist neues Gesprächsangebot zurück
Die ukrainische Führung hat ein neues Gesprächsangebot Moskaus als "neue Nebelkerze" zurückgewiesen. "Russische Beamte beginnen, Gesprächsangebote immer dann zu unterbreiten, wenn die russischen Truppen Niederlagen auf dem Schlachtfeld erleiden", schrieb Außenamtssprecher Oleh Nikolenko auf Facebook. Mit dem neuen Dialogangebot spiele Russland lediglich auf Zeit, um seine Truppen neu zu sortieren und zu verstärken, und um dann "neue Wellen der Aggression" einzuleiten.
In Moskau hatte Russlands Außenamtssprecherin Maria Sacharowa am Nachmittag die Bereitschaft Russlands zu Gesprächen "auf Grundlage der aktuellen Realitäten" angeboten. Damit war der aktuelle Stand an den Fronten gemeint. "Wir sind weiterhin zu Gesprächen bereit, wir haben sie nie verweigert", sagte sie. Kiew hat bereits mehrere Gesprächsangebote aus Moskau abgelehnt, fordert als Vorleistung den kompletten Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine.
Russland und Iran vereinbaren engere Zusammenarbeit
Russland und der Iran wollen ihre Wirtschafts- und Handelsbeziehungen angesichts des westlichen Sanktionsdrucks auf beide Länder ausbauen. Das vereinbarten der russische Sicherheitsratschef Nikolai Patruschew und sein iranischer Amtskollege Ali Schamchani nach Angaben russischer und iranischer Medien bei Gesprächen in Teheran. Wie die engere wirtschaftliche Zusammenarbeit aussehen soll, ist nicht bekannt. Der Iran gilt als Unterstützer im Krieg gegen die Ukraine. Am Wochenende hatte Teheran erstmals zugegeben, an Russland auch Drohnen geliefert zu haben.
Krim-Brücke bleibt offenbar länger beschädigt
Die Wiederherstellung der beschädigten Krim-Brücke könnte nach Einschätzung britischer Geheimdienst-Experten noch beinahe ein Jahr dauern. "Die russischen Anstrengungen, die Krim-Brücke zu reparieren, gehen weiter, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie vor September 2023 vollständig funktionsfähig sein wird", hieß es aus London. Die für den Nachschub der russischen Invasionstruppen in der Ukraine wichtige Brücke war am 8. Oktober durch eine Explosion schwer beschädigt worden.
Aus einer Unterrichtung an den russischen Präsidenten Wladimir Putin gehe hervor, dass Arbeiten an der Straßenbrücke den Verkehr noch bis März 2023 einschränken würden, so die britischen Experten weiter. Die Reparatur der Bahnstrecke sei vertraglich bis September 2023 vereinbart worden. Derzeit sei ein Gleis benutzbar, aber der Zugverkehr sei weiterhin eingeschränkt.
Amnesty: Liste der russischen Kriegsverbrechen wird immer länger
Amnesty International beklagt die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine: "Die Liste der Kriegsverbrechen, die russische Streitkräfte in der Ukraine begehen, wird immer länger", sagte Janine Uhlmannsiek, Amnesty-Expertin für Europa und Zentralasien. "Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der an sich bereits ein völkerrechtliches Verbrechen darstellt, haben die russischen Truppen wahllos Wohngebiete angegriffen, verbotene Streumunition eingesetzt und Zivilpersonen gezielt getötet." Auch das russische Vorgehen der rechtswidrigen Vertreibung und Überführung stelle ein Kriegsverbrechen dar und solle zudem als Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersucht werden, so die Menschenrechtsorganisation.
Gouverneur von Luhansk: Russen haben Angst, Munition in Lagerhäusern zu deponieren
Laut ukrainischen Angaben wollen die russischen Truppen in der Region Luhansk ihre Munition nicht mehr in Lagerhäusern deponieren. Dies berichtete "Kyiv Independent" und berief sich auf den Gouverneur der Region, Serhij Hajdaij. Demnach hätten Bewohner des besetzten Alchwvsk viele russische Lastwagen mit Munition gesichtet. Die russischen Streitkräfte hätten aufgrund der Artillerieangriffe der Ukraine "Angst", die Munition in Lagerhäusern zu lagern, so Hajdaj. Nachts lüden die Russen daher die Munition aus Lastwagen in kleinere Fahrzeuge um und brächten sie an die Front.
Ukraine ruft Bevölkerung zum Stromsparen auf
In allen Regionen der Ukraine soll es sowohl in privaten Haushalten als auch in der Industrie zu weiteren Stromabschaltungen kommen. Dies schreibt der staatliche Netzbetreiber Ukrenergo bei Telegram. Mit den Stromabschaltungen für Unternehmen und Haushalte soll das Stromnetz des Landes stabilisiert werden. Zugleich rief das Unternehmen alle Ukrainer zum Energiesparen auf: "Verbrauchen Sie Strom sparsam und schließen Sie tagsüber nicht mehrere leistungsstarke Elektrogeräte gleichzeitig an das Netz an, insbesondere während der Verbrauchsspitzenzeiten - von 6:00 bis 11:00 und von 17:00 bis 23:00 Uhr."
LKA-Mann wegen Russlandreise von Staatsschutz abgezogen
Ein Mitarbeiter des Berliner Landeskriminalamts (LKA) ist offenbar aus der Staatsschutzabteilung abgezogen worden, weil er zusammen mit einem behördenbekannten Rechtsextremen nach Belarus und Russland gereist sein soll, ohne dies zu melden. Dem Bericht des ARD-Magazins "Kontraste", der "Zeit" und des russischsprachigen Onlinemediums "Meduza" zufolge wird ein Disziplinarverfahren gegen den Mann eingeleitet. Der 58 Jahre alte LKA-Mitarbeiter soll in einem Verein für Völkerfreundschaft in Brandenburg aktiv sein, dessen Mitglieder sich als "Kosaken" bezeichnen und die Verbindungen zu einer paramilitärischen russischen Kosakengruppe pflegen.
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Quelle: ntv.de, jpe/dpa