Millionster Gastarbeiter begrüßt Der Portugiese mit dem Moped
10.09.2014, 13:32 Uhr
Angekommen in einer neuen Welt: Armando Rodrigues de Sá wird am Bahnhof Köln/Deutz empfangen- mit einem Moped.
(Foto: picture alliance / dpa)
Vor 50 Jahren fährt ein Zug in Köln ein. Einer der Passagiere: Armando Rodrigues de Sá, der millionste Gastarbeiter in Deutschland. Das Gesicht des Zimmermanns aus Portugal steht wie kaum ein anderes für das Leben ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland.
Auch heute noch ist Vale de Madeiros ein beschauliches Dorf im nördlichen Portugal. Zwischen den Häusern liegen Felder, es gibt mehr staubige Pfade als feste Straßen, das ganze Dorf ist von lichtem Wald umgeben. Auf dem Festplatz im Zentrum des Dorfes stehen Eukalyptusbäume, hier wird am Abend getanzt und gefeiert. Tagsüber ächzt das Dorf unter der iberischen Sonne. Aus dieser ländlichen Idylle kam Armando Rodrigues de Sá am 10. September 1964 nach Deutschland.
Seine Ankunft am Bahnhof Köln/Deutz dürfte ihn ziemlich geschockt haben: das imposante Bahnhofsgebäude, die kühle Septemberluft, der feine Regen, der an diesem Tag über dem Rhein lag - und die Horde aus Fotografen, Journalisten und Offiziellen. Eine Kapelle spielte auf, Frauen tanzten iberische Tänze und Manfred Dunkel, der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes der Metallindustrie in Köln, hielt an seiner Seite ein Moped. Die zweisitzige Zündapp wurde zu einem symbolischen Fahrzeug der deutschen Nachkriegsgeschichte. Armando Rodrigues dürfte von diesem Aufgebot überrascht gewesen sein. Bevor er aus dem Zug in Köln ausstieg, war ihm nicht klar, dass er der millionste Gastarbeiter in Deutschland war.
Geboren wurde Armando Rodrigues de Sá am 4. Januar 1926 in dem Dorf Vale de Madeiros. Bei seinem Onkel lernte er das Handwerk des Zimmermanns, arbeitete einige Jahre in einer Erzmine. 1945 heiratete er, seine Braut, Maria Emilia, war damals erst 14. Das Paar bekam zwei Kinder. 1953 nahm Rodrigues die Arbeit in einer Fabrik im Nachbarort Canes de Senhorim auf. Elf Jahre lang fuhr er mit dem Fahrrad durch die Felder zur Arbeit.
Mehr Arbeit als Arbeiter
Zu dieser Zeit war in Deutschland das Wirtschaftswunder in vollem Gange. Die Nachkriegszeit war vorbei, Deutschland hatte sich von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs erholt und erfand sich neu. Fabriken und Betriebe entstanden, bald gab es Vollbeschäftigung. Die Folge waren zahlreiche offene Stellen. 1955 wurde ein Vertrag mit Italien zur Anwerbung von Arbeitskräften geschlossen, später kamen auch Gastarbeiter aus Griechenland, Spanien, der Türkei und schließlich, 1964, aus Portugal.
Gegen den Willen seiner Frau bewarb sich auch Armando Rodrigues de Sá um eine Stelle in Deutschland. Am 7. September fuhr er ein letztes Mal mit dem Fahrrad in den Nachbarort. Statt in die Fabrik ging er jedoch zum Bahnhof, stieg in den Zug und fuhr los. Er wollte sich und seiner Familie mit dem höheren Lohn in Deutschland ein Leben in Wohlstand ermöglichen. Drei Tage dauerte die Reise, über Lissabon, wo er auf mögliche Krankheiten untersucht wurde, bis er an jenem regnerischen 10. September am Bahnsteig in Köln/Deutz empfangen wurde.
Begrüßt wie ein Rockstar

Willkommensgeschenk: Rodrigues wurde vom Trubel bei seiner Ankunft überrascht.
(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)
"Millionär auf dem Moped", "Musik für den millionsten Gastarbeiter" und "Großer Bahnhof für Rodrigues" titelten am nächsten Tag die Zeitungen. Der Mann, der aus dem Zug gestiegen war, wirkte wie das Klischee eines Gastarbeiters: Mit tief in den Höhlen liegenden, grauen Augen und aufrechtem Gang, steif, vom Medienrummel bei seiner Ankunft keineswegs aus der Fassung gebracht, nimmt er das Moped, sein Willkommensgeschenk, entgegen. Dabei dreht er seinen Hut zwischen den schlanken Fingern.
Von Köln aus ging es für Rodrigues weiter nach Blaubeuren und Sindelfingen bei Stuttgart. Dort lebte er mit anderen Gastarbeitern nahe den Fabriken, in denen er als Zimmermann arbeitete. Jede Woche schrieb er nach Hause, berichtete von seinem Leben in Deutschland. Unter seinen Kollegen war er beliebt, galt als höflich, bescheiden und zurückhaltend. Seine Freizeit verbrachte er oft beim Kartenspiel. Bald war er für seine gepflegte Erscheinung bekannt. Sein Motto war: "Wie du dich kleidest, so wirst du empfangen". Rodrigues wurde oft von Journalisten interviewt, er galt als Vorzeige-Gastarbeiter. Ein damaliger Kollege sagt über diese Situationen: "Armando war wirklich stolz, wenn jemand mit ihm sprechen wollte. Aber ich verstehe nicht, warum man immer nur ihn gefragt hat, nie einen von den anderen Arbeitern".
Jedes Jahr im Winter, wenn es wenig Arbeit gab, fuhr er nach Portugal, zu seiner Familie, brachte ihnen das ersparte Geld. Da er für sich selbst sehr wenig ausgab, reichte es bald, um in der Heimat ein Haus zu kaufen.
Lebensabend in der Heimat
1970 verlängerte er seinen Heimaturlaub eigenmächtig und wurde in Sindelfingen entlassen. Nach der Rückkehr nach Deutschland suchte er neue Arbeit und wurde in der Chemiefabrik Kalle in Wiesbaden angestellt. Dort fehlten ihm jedoch einige Dokumente. Um sie zu beschaffen, reiste er kurze Zeit später wieder nach Portugal.
Dort bekam er starke Magenschmerzen. Der Arzt war zwar ratlos, riet jedoch von einer Rückkehr nach Deutschland ab. Armando Rodrigues de Sá blieb in Portugal, wohnte mit seiner Familie in seinem Heimatdorf Vale de Madeiros. Obwohl gerade einmal 44 Jahre alt, ging er von da an keiner geregelten Arbeit mehr nach. Über die Zeit verschlimmerten sich seine Schmerzen, weitere Ärzte wussten keinen Rat. Es dauerte, bis ein Arzt die Diagnose stellen konnte: Krebs. Armando Rodrigues ließ sich seine Rente aus Deutschland auszahlen, die Familie musste teure Medikamente aus Spanien beschaffen. Es folgten Krankenhausaufenthalte. Bald stand fest, dass eine Heilung nicht mehr möglich war, zu weit hatte sich die Krankheit ausgebreitet. In seinen letzten Monaten wurde der millionste Gastarbeiter mit Morphin betäubt und künstlich ernährt. Im Jahr 1979 kam Armando Rodrigues de Sá zum Sterben nach Hause, in sein Heimatdorf Vale de Madeiros. Beigesetzt wurde er auf dem Friedhof von Canes de Senhorim, nicht weit von dem Bahnhof entfernt, von dem aus er 15 Jahre zuvor nach Deutschland aufgebrochen war.
Irgendwann begann man in Deutschland nach Rodrigues zu suchen, man wollte weitere Interviews. Von seinem Tod hatte man nichts mitbekommen. Erst 1999 gelang es dem deutschen Konsul in Porto, die Familie in ihrem kleinen Dorf zu finden. Im Schuppen stand das verrostete Moped. Der Gastarbeiter hatte es auf seiner letzten Reise in die Heimat mitgebracht. Für 10.000 Euro wurde es der Witwe abgekauft. Heute steht es im Haus der Geschichte in Bonn.
Der millionste Gastarbeiter in Deutschland - diesen Titel trug Rodrigues wohl nicht zu Recht. Man hatte geschätzt, dass knapp eine Million Gastarbeiter bis 1964 nach Deutschland gekommen waren. "Der Zeigefinger des BDA-Suchers war beim Überfliegen der Vorauslisten auf dem Portugiesen Rodrigues hängengeblieben", wie die Kölnische Rundschau am 11. September 1964 schrieb. Man hatte also, um ein medienwirksames Ereignis zu schaffen, aufs Geratewohl einen der an diesem 10. September ankommenden Portugiesen gewählt - und das war er, der gut gekleidete, stille Mann, Armando Rodrigues de Sá.
Quelle: ntv.de