Politik

Botschaften aus der Ukraine "Deutschland sollte führen, aber es hat sich dagegen entschieden"

"Wenn Deutschland seinen Kurs ändert, wird das Auswirkungen haben", sagt Kostiantyn Krynytskyi. "Aber dennoch reden Vertreter Deutschlands lieber darüber, was andere Länder tun oder besser nicht tun."

"Wenn Deutschland seinen Kurs ändert, wird das Auswirkungen haben", sagt Kostiantyn Krynytskyi. "Aber dennoch reden Vertreter Deutschlands lieber darüber, was andere Länder tun oder besser nicht tun."

(Foto: picture alliance/dpa/Reuters/Pool)

Für drei Tage hat der Ukrainer Kostiantyn Krynytskyi den Twitter-Account des SPD-Politikers Michael Roth übernommen. Dass Roth sein Sprachrohr Krynytskyi überlassen hat, ist durchaus symbolisch zu verstehen: Roth ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, zusammen mit der FDP-Abgeordneten Marie-Agnes Strack-Zimmermann und dem Grünen Toni Hofreiter fuhr er in die Ukraine, um ein Zeichen zu setzen. Alle drei drängen die Bundesregierung bereits seit Wochen, der Ukraine stärker zu helfen.

Schwere Waffen und ein Energie-Embargo wünscht sich auch Kostiantyn Krynytskyi. Und Führung. "Deutschland ist politisch das mächtigste und wirtschaftlich das stärkste Land in Europa", sagt er. "Aus ukrainischer Sicht muss Deutschland eine Führungsrolle übernehmen, statt nur zu folgen und auf das zu reagieren, was andere Länder tun."

ntv.de: Entschuldigen Sie bitte, ich habe völlig vergessen, dass heute der orthodoxe Karfreitag ist. Das ist doch ein Feiertag für Sie, oder?

Kostiantyn Krynytskyi: Ja und nein. An diesem Wochenende haben wir Ostern, aber unter dem Kriegsrecht gibt es in der Ukraine keine Feiertage mehr. Und ich arbeite ohnehin jeden Tag. Für mich ist es seit dem 24. Februar wie ein einziger langer Tag. Ich unterscheide schon gar nicht mehr zwischen Werktagen, Wochenenden und Feiertagen.

Kostiantyn Krynytskyi ist Jurist und Leiter der Abteilung Energie für die ukrainische Umweltorganisation Ecoaction/Ecodiya.

Kostiantyn Krynytskyi ist Jurist und Leiter der Abteilung Energie für die ukrainische Umweltorganisation Ecoaction/Ecodiya.

(Foto: privat)

Wie kam es dazu, dass Michael Roth Ihnen seinen Twitter-Account überlassen hat?

Ich arbeite für eine Umwelt-Organisation in Kyiv*. Nach Beginn des Kriegs hatten wir viele Online-Treffen mit Vertretern ausländischer Unternehmen, Regierungen und mit Abgeordneten ausländischer Parlamente. Unter anderem hatte ich eine Zoom-Konferenz mit Michael, und am Ende fragte er mich, ob ich das machen wolle. Ich sagte ja, so fing es an.

Was hat Sie am meisten überrascht, als Sie mit und für ein deutsches Publikum kommunizierten?

Bei all den Gesprächen, die wir mit Vertretern aus Deutschland hatten, sagten alle immer wieder, was alles nicht geht: "Wir können kein Embargo gegen russische Kohle, Öl und Gas verhängen, denn das würde unserer Wirtschaft schaden. Außerdem muss es im Voraus geplant werden." Das zu hören, war sehr schmerzhaft. Nach solchen Gesprächen empfand ich in der Regel vor allem Wut.

Deshalb war ich froh, als ich die Chance bekam, mit einem breiteren Publikum zu sprechen. Twitter ist in der Ukraine nicht sehr verbreitet, aber in Deutschland schon, wie ich hörte, also dachte ich, ich könnte den Leuten erzählen, was in der Ukraine wirklich passiert. Menschen sterben, sie werden bombardiert, erschossen, vergewaltigt. Ich weiß nicht, ob Twitter repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ist. Jedenfalls habe ich meistens Reaktionen bekommen wie: "Wir verstehen auch nicht, was unsere Regierung da macht, wir finden, wir müssten mehr tun." Deshalb verstehe ich jetzt noch weniger als vorher, warum Deutschland ein sofortiges Energie-Embargo nicht unterstützt oder warum Deutschland sich weigert, schwere Waffen zu liefern. Es scheint, dass die Menschen bereiter sind als die Regierung.

Diese Woche hat die deutsche Regierung angekündigt, dass Deutschland, obwohl es keine schweren Waffen liefern könne, sich an einem Ringtausch beteiligen wird, indem es Panzer an Slowenien liefert, damit Slowenien Panzer an die Ukraine liefern kann. Ist das Ihrer Meinung nach eine gute Entwicklung?

Deutschland ist politisch das mächtigste und wirtschaftlich das stärkste Land in Europa. Aus ukrainischer Sicht muss Deutschland eine Führungsrolle übernehmen, statt nur zu folgen und auf das zu reagieren, was andere Länder tun. Ein Ringtausch ist sicherlich besser als nichts, aber damit übernimmt Deutschland noch immer keine Führungsrolle. Das Ansehen Deutschlands in der Ukraine sinkt von Tag zu Tag. Es ist mittlerweile auf einer Stufe mit Ungarn, würde ich sagen, und das will was heißen.

Eins meiner Hauptthemen ist normalerweise der Ausstieg aus der Kohle und der Strukturwandel in den Kohleregionen. Als das jüngste Sanktionspaket gegen russische Kohle angekündigt wurde, hieß es, die Frist laufe im August ab - das war lachhaft. Ein Embargo gegen russische Kohle ist das Einfachste, was man tun kann, und trotzdem sagt Europa, dass es erst in drei Monaten so weit sein wird. Was passiert in der Ukraine in diesen drei Monaten? Mit dem Öl ist es dasselbe. Die deutsche Regierung sagt, sie werde russisches Öl bis zum Ende des Jahres auslaufen lassen. Wir sind der Meinung, dass Kohle und Öl gleich behandelt werden sollten und ein sofortiger Importstopp für beide gelten sollte, denn sie können beide ersetzt werden.

In Teilen der deutschen Regierung hat man das Gefühl, dass andere europäische Länder nicht unbedingt mehr für die Ukraine tun und dass Deutschland ungerecht behandelt wird.

Das ist etwas, das wir häufig hören, wenn wir mit deutschen Vertretern sprechen. Ich finde das wirklich seltsam. Wir konzentrieren uns auf Deutschland, weil es erstens das wichtigste Land ist und zweitens im Moment auch das größte Hindernis darstellt. Kleinere Länder machen das nach, was Deutschland tut. Wenn Deutschland seinen Kurs ändert, wird das Auswirkungen haben. Aber dennoch reden Vertreter Deutschlands lieber darüber, was andere Länder tun oder besser nicht tun. Das ist Whataboutism. Sie verschieben den Fokus und damit die Schuldzuweisung. "Was ist mit Frankreich, was ist mit Italien, was ist mit Großbritannien?" Nun, wir wollen nicht über Frankreich, Italien oder Großbritannien sprechen, wir wollen über Deutschland sprechen.

Bundeskanzler Scholz argumentiert, Deutschland werde keine "Alleingänge" unternehmen.

Echte Führungsstärke erfordert, dass man Entscheidungen trifft, wenn nötig auch mutige Entscheidungen. Es ist leicht, auf andere zu warten, aber während wir hier sprechen, tun andere Länder bereits mehr. Amerika hat gerade erst eine spezielle Drohne für die Ukraine entwickelt. Es ist auch nicht so, dass Deutschland das erste Land in Europa wäre, das schwere Waffen liefern würde, und Deutschland wäre auch nicht das einzige Land in Europa, das ein Energie-Embargo gegen Russland befürwortet, im Gegenteil. Deutschland hat beschlossen, sich nicht aktiv an diesem Prozess zu beteiligen. Es kann und sollte mit gutem Beispiel vorangehen, aber es hat sich dagegen entschieden.

Was halten Sie von der deutschen Russland-Politik der letzten Jahre?

Aus ukrainischer Sicht muss ich sagen, dass die Situation, in der Deutschland sich derzeit befindet, absolut selbst verschuldet ist. Sie hätte vermieden werden können. Ich bin kein Unternehmer, aber es scheint mir eine seltsame Art unternehmerischer Logik zu sein, sich von einem einzigen Lieferanten abhängig zu machen. Ich fürchte, die Geschichte wird nicht gerade wohlwollend auf die deutsche Politik der letzten zwanzig Jahre zurückblicken.

Ist das eine Perspektive, die Sie über den Twitter-Account von Michael Roth zu verbreiten versucht haben?

Ich wollte generell eine ukrainische Perspektive einbringen. Für die Menschen in Deutschland und auf der ganzen Welt ist die Ukraine immer noch ein blinder Fleck. Wir werden immer noch durch eine russische Brille gesehen. Aber wir sind ein eigenständiges Land, wir haben eine jahrhundertelange Geschichte. Viele Menschen scheinen nicht zu begreifen, dass die Beziehung zwischen Russland und der Ukraine kolonialer Art ist: Russland sieht uns als Kolonie, die es zurückerobern muss. Deshalb ist es so schmerzhaft, all dieses Gerede über "russische Sicherheitsinteressen" zu hören. Das ist verrückt. Wir haben jahrhundertelang für unsere Unabhängigkeit gekämpft, und jetzt, wo wir ein unabhängiges Land sind, sehen die Leute das immer noch nicht. Auch dieses deutsche Schuldgefühl gegenüber Russland wegen des Zweiten Weltkriegs ist für mich entmutigend, weil es Länder wie die Ukraine und Belarus völlig außer Acht lässt. Viele Deutsche sehen nicht, dass es noch weitere Länder zwischen Polen und Russland gibt.

Auf Twitter haben Sie auch die Debatten über den ukrainischen Botschafter und den abgesagten Besuch des Bundespräsidenten in Kyiv kommentiert. Sind das aus ukrainischer Sicht wichtige Themen?

Solche Debatten führen zu einem Wust von Argumenten und dazu, dass nichts getan wird. Das macht mich wahnsinnig. Die Ukraine braucht keine Gespräche über Botschafter Melnyk oder Bundespräsident Steinmeier. Wir brauchen Embargos und militärische Hilfe. Natürlich habe ich volles Verständnis für unseren Botschafter. Wir sind im Krieg. Er tut alles, damit die deutschen Medien und die deutschen Politiker aufmerksam werden. Es ist nur verrückt, dass so viele andere Dinge wichtiger zu sein scheinen, als uns beim Überleben zu helfen. All diese Diskussionen über das Heizen im kommenden Winter, über die chemische Industrie und welche Folgen ein Embargo haben könnte. Alles wird in so viele Details aufgeschlüsselt, dass man den Blick für das große Bild verliert. Es gibt zu viele symbolische Gesten und nicht genug Hilfe. Das macht mich wütend.

In einem Tweet haben Sie über Ihre Großmutter gesprochen. Wo ist sie und wie geht es ihr?

Sie ist in der Ostukraine. Ihre Stadt liegt nicht direkt an der Front, wird aber ständig mit russischen Raketen beschossen. Ich habe heute noch nicht mit ihr gesprochen, aber gestern war sie noch am Leben. Es ging ihr gut. In ein paar Tagen wird sie 93. Sie erinnert sich an die Zeit, als ihre Stadt von den Deutschen besetzt war. Deutsche Soldaten besetzten ihr Haus und wohnten darin. Jetzt erlebt sie diesen Horror noch einmal. Sie wohnt bei meinem Onkel, ständig hören sie Explosionen, jeden Tag. Das meinte ich, wenn ich sage, dass die Deutschen sich gegenüber Russland schuldig fühlen, aber Länder wie Belarus und die Ukraine ignorieren. Deutschland sagt "nie wieder", tut aber nicht genug, um dafür zu sorgen, dass so etwas tatsächlich nicht wieder passiert.

Mit Kostiantyn Krynytskyi sprach Hubertus Volmer

*) Kostiantyn Krynytskyi legt Wert auf die Schreibweise Kyiv, da Kiev (im Englischen) und Kiew (im Deutschen) der Transkription aus dem Russischen folgen.

You can find the English version of this interview here.

Quelle: ntv.de

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