Reisners Blick auf die Front"Die Russen verhandeln nur, wenn sie das Messer an der Kehle haben"

In Berlin verhandelt Ukraine-Präsident Selenskyj mit Amerikanern und Europäern über einen Frieden in dem von Russland angegriffenen Land. Russland beharrt auf Maximalforderungen. Oberst Reisner schätzt die Lage ein.
ntv.de: Herr Reisner, heute kommen Ukraines Präsident Selenskyj und mehrere europäische Regierungschefs sowie US-Unterhändler Wittkoff und Trump-Schwiegersohn Kushner nach Berlin. Was bedeutet das für den Krieg in der Ukraine?
Markus Reisner: Die Friedensverhandlungen sind so intensiv wie noch nie seit Beginn des Konflikts. An diesem 1390. Tag des Krieges stellt sich für mich die Frage: Entscheidet sich nun das Schicksal der Ukraine?
Worum geht es konkret? Was liegt auf dem Tisch?
Wir sehen drei Blöcke: Sicherheitsgarantien, Wiederaufbau und territoriale Fragen. Die strittigsten Punkte betreffen den Donbass, aber auch das Atomkraftwerk Saporischschja. Interessant ist die Idee der USA, eine entmilitarisierte Wirtschaftszone im Donbass einzurichten, die die Ukraine möglicherweise kontrollieren soll, aber den Russen zugesprochen werden könnte.
Käme das nicht einer verdeckten Übergabe des Gebiets an die Russen gleich?
So ist es! Die Russen versuchen die Amerikaner offensichtlich mit einer gemeinsamen Ausbeutung der Bodenschätze des Donbass zu ködern. Hinzu kommt die Idee der gemeinsamen Exploration der Arktisregion. "Geld stinkt nicht!", das ist das Motto des neuen amerikanisch-russischen Verständnisses.
Zu welchen Zugeständnissen ist die Ukraine bereit?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bietet an, die Frontlinie einzufrieren. Das ist mehr als in den vergangenen Monaten jemals vorstellbar war. Für die Aufgabe des Ziels eines Nato-Beitritts bräuchte er starke Sicherheitsgarantien, die denen von Artikel 5 des Nato-Vertrags entsprechen müssten. Russland hat darauf noch nicht reagiert und will weiterhin die sogenannte Spezialoperation bis zum Ende durchführen. Aus russischer Sicht bedeutet das, so es keine Einigung gibt, mindestens die Einnahme des Donbass.
Grundlage für die Verhandlungen ist die militärische Lage. Wo stehen wir da?
Russland attackiert die Ukraine weiter massiv aus der Luft. Am 12. Dezember haben wir den siebten Großangriff seit Anfang November gesehen. Dabei setzten sie 495 Marschflugkörper, Drohnen und Raketen ein. Ziel war wieder die Gas- und Stromversorgung, diesmal vor allem im Raum Odessa. Die Stadt lag teils im Dunkeln. Im Mittelabschnitt ist die Stadt Siwersk gefallen. Der Angelpunkt des Mittelabschnitts und das Tor zu Slawjansk und Kramatorsk.
Wie sieht es mit ukrainischen Luftangriffen aus?
Die Ukrainer greifen ebenfalls an, zuletzt am Samstag mit 141 Drohen und Marschflugkörpern auf Ziele in Russland. Mindestens ebenso wichtig war der Erfolg am Boden bei Kupjansk. Dort haben die Ukrainer begonnen, russische Truppen in der Stadt einzuschließen und Land gewonnen.
Was bedeutet der Erfolg bei Kupjansk?
Er ist ein wichtiges Signal für die Verhandlungen in Berlin: Seht her, es lohnt sich noch, uns zu unterstützen.
Russlands Position lebt auch von der Annahme, über kurz oder lang werden sie sich ohnehin durchsetzen. Stimmt diese Annahme?
Das hängt davon ab, wie viel Hilfe die Ukraine bekommt. Ich vergleiche das mit einer mathematischen Gleichung mit mehreren Variablen. Eine davon ist die westliche Hilfe. Fahren Europäer und Amerikaner diese hoch, steigen auch die Chancen der Ukraine. Aber auch auf russischer Seite haben sich diese Variablen bereits zu ihren Gunsten verbessert.
Warum?
Durch Hilfe von anderen Staaten, insbesondere China. Russland kann Glasfaser-Drohnen in großem Maßstab einsetzen, weil China die Kabel, Spulen und Wickelmaschinen liefert. Nordkorea liefert Artilleriemunition, aus dem Iran kommt Drohnentechnologie. So ist das Momentum bei den Russen. Trotzdem ist es ihnen nicht gelungen, einen operativen Durchbruch zu erzielen. Nach wie vor ist die Ukraine in der Lage, auf dem Schlachtfeld etwas zu erreichen. Und sei es nur die Abwehr oder Verzögerung der russischen Angriffe.
Vergangene Woche haben Sie gesagt, die Europäer müssten sich entscheiden, entweder die Ukraine bedingungslos zu unterstützen oder sich eingestehen, nicht dazu bereit zu sein. Wie würde eine bedingungslose Unterstützung aussehen?
Die Ukraine hat vier große Herausforderungen. Sie braucht Geld, sie steckt wegen der Luftangriffe in einer Energiekrise, das Dritte ist der Korruptionsskandal im Umfeld von Selenskyj und das Vierte betrifft den Soldatenmangel an der Front. Europa kann einiges tun, etwa bei der Finanzierung und das eingefrorene russische Geld endlich für die Ukraine nutzbar machen. Da geht es darum, den Staat überhaupt handlungsfähig zu halten. Für die Abwehr der Luftangriffe braucht es Fliegerabwehr. Das sind rein defensive Waffen, deren bedingungslose Lieferung kann für niemanden ein Problem sein.
Das ist doch auch eine Frage der Verfügbarkeit.
Richtig. Europa bestellt Patriot-Raketen und -Systeme bei den Amerikanern, die sich das teuer bezahlen lassen. Die USA produzieren mittlerweile 1000 Patriot-Raketen pro Jahr. Von dem ähnlichen System SAMP/T stellt Europa nur 100 pro Jahr her, demnächst vielleicht 140. Das reicht hinten und vorne nicht.
Wie sieht es bei der Artillerie aus?
Auch bei den Artilleriegranaten gibt es ein Ungleichgewicht. Die Europäer haben den Ukrainern dieses Jahr 1,8 Millionen Granaten geliefert. Die Russen haben selbst 3,5 Millionen produziert und noch einmal drei Millionen von Verbündeten erhalten.
Trotzdem hat auch Russland massive Probleme und ist keineswegs auf dem Schlachtfeld haushoch überlegen.
Völlig richtig. Die Wirtschaftssanktionen wirken, auch die ukrainischen Angriffe auf die Schattenflotte. Da gibt es eine ganze Reihe von Dingen, die funktionieren. Trotzdem ist die Frage, wie lange die Ukraine noch durchhält. Und nicht, wie lange die Russen noch durchhalten. Wir dürfen nicht vergessen: Russland führt diesen Krieg nicht alleine, sondern hat starke Verbündete. Das dürfte auch so bleiben. Indien profitiert von günstigem Öl aus Russland. China hat kein Interesse daran, dass Russland den Krieg verliert. Denn dann würden sich die Amerikaner wieder mehr der Taiwan-Frage zuwenden, fürchten sie.
Wenn Sie auf das Jahr zurückblicken und ins neue Jahr schauen - wo kommen wir her und wo gehen wir hin?
Aus meiner Sicht befinden wir uns in der neunten Runde eines Boxkampfs. In Runde acht hat Donald Trump die US-Präsidentschaft übernommen, wir haben einen langsamen, aber steten Vormarsch der Russen gesehen. Ein Treffen von Trump und Putin in Alaska brachte keine wesentlichen Ergebnisse. Die russische Winteroffensive brachte einen sichtbaren Einbruch im Südabschnitt.
Und was ist mit der neunten Runde?
Phase neun begann mit dem 28-Punkte-Plan der USA im November. Das ukrainische Kalkül ist es, den Russen so viel Verluste wie möglich zuzufügen. Doch die Russen glauben, sie sind bereits kurz vor dem Sieg. Sie sagen sich: Wir halten sicher noch ein halbes Jahr, wenn nicht auch ein Jahr durch, bis wir das bekommen, was wir haben möchten. Kompromissbereit sind die Russen nicht.
Was bedeutet das für die Ukraine?
Die Ukraine braucht dringend Erfolge. Das gelingt ihr durchaus, gerade erst wieder bei Kupjansk. Doch von Woche zu Woche werden ihre Karten schlechter. Selenskyj ist weit von den Forderungen des vergangenen Jahres entfernt. Damals sprach er noch davon, die gesamte Ukraine, inklusive der Krim zurückzuerobern. Bekommt sein Land nicht mehr Hilfe aus dem Westen, wird es sehr schwierig.
Kern der westlichen Strategie war es immer, Russland das Leben so schwer zu machen, dass es an den Verhandlungstisch gezwungen wird. Warum sollte Russland ausgerechnet jetzt ernsthaft verhandeln?
Russland spürt den Druck der Sanktionen und der ukrainischen Luftangriffe durchaus. Aber dank der Verbündeten glaubt die Führung in Moskau, noch länger durchhalten zu können. Es ist nun die Frage, wer den größeren, den stärkeren Willen hat.
Sie haben gesagt, das heute seien ernste Verhandlungen.
Die Ernsthaftigkeit kommt nicht von russischer Seite, sondern von den Amerikanern. Sie sind bereit, die Ukraine in einen Frieden zu zwingen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu früher. Deswegen spreche ich von ernsthaften und realistischen Verhandlungen.
Was versprechen sich die Amerikaner davon?
Trump will so rasch als möglich aus diesem Krieg herauskommen. Die Russen haben das sehr geschickt gemacht. Auf US-Seite verhandeln Wirtschaftsleute wie Wittkoff und Kushner. Das sind keine Diplomaten. Ihnen haben die Russen gemeinsame Geschäfte angeboten und die Amerikaner haben angebissen. Sie wollen Profite machen. Um einen würdevollen Frieden geht es ihnen weniger.
Was könnte heute also dabei herauskommen?
Ich sehe drei Szenarien. Das "koreanische Szenario" wäre ein Waffenstillstand ohne Friedensverhandlungen, das "deutsche Szenario", wäre eine Teilung mit einer Rest-Ukraine in der Nato. Das "finnische Szenario" wäre ein Diktatfrieden, in dem der Staat überlebt, aber Gebiete abtritt.
Klingt nicht gut aus Sicht der Ukraine.
Wer sich die russische Geschichte anschaut, wird erkennen: Russland war immer nur verhandlungsbereit, wenn es das Messer an der Kehle hatte. Das sehen wir aber nicht. Die Europäer sind nicht in der Lage, die Amerikaner nicht bereit dazu. So droht der Ukraine ein Diktatfrieden. Dann hätte Russland auf ganzer Linie gewonnen.
Mit Markus Reisner sprach Volker Petersen