
Wagner-Chef Prigoschin (m.) posiert Anfang Januar mit Kriminellen, die nach einem Einsatz in der Ukraine freikommen sollen.
(Foto: Telegram)
Für den Krieg in der Ukraine rekrutiert die Söldnergruppe Wagner in russischen Gefängnissen Zehntausende Häftlinge. Von den wenigen Überlebenden kommen die ersten nun wieder auf freien Fuß. Darunter sind auch skrupellose Mörder und ein Millionär, der eine ganze Familie erschießen ließ.
Stanislaw Bogdanow hat überlebt. Irgendwo im Donbass verlor er ein Bein, als ein Geschoss der ukrainischen Streitkräfte in der Nähe einschlug. Jetzt sitzt er zusammen mit drei Kameraden auf einem Sofa in einem Rehabilitationszentrum auf der Krim, gleich bekommt er eine Medaille für "Tapferkeit" und - was viel wichtiger ist - seinen Pass ausgehändigt. Bald ist Bogdanow ein freier Mann.
Der 35-Jährige ist einer der nach US-Einschätzung rund 40.000 russischen Häftlinge, die von der Söldnergruppe Wagner für den Krieg in der Ukraine rekrutiert wurden. Am vergangenen Donnerstag gab der Chef der Gruppe, Jewgeni Prigoschin bekannt, dass man die Rekrutierung von Gefangenen eingestellt habe. Bogdanow ist auch einer der wenigen, die lebend von der Front zurückgekehrt sind. Er zog in den Krieg, als er nicht einmal die Hälfte seiner Strafe abgesessen hat. Bogdanow ist ein Mörder.
Vor zehn Jahren wurde der heute 35-Jährige laut einem Bericht des Mediums "Ria Fan", das Prigoschin gehört, wegen "Mordes mit besonderer Grausamkeit" zu 23 Jahren Haft verurteilt. Prigoschin macht kein Geheimnis aus der dunklen Vorgeschichte seiner Kämpfer und verspricht ihnen eine Begnadigung nach dem Einsatz in der Ukraine - ein Versprechen, das laut dem Bericht nun auch eingehalten wird. Demnach kommt Bogdanow, wie auch seine Kameraden, die in einem "Ria Fan"-Video zu sehen sind, auf freien Fuß.
"Ich habe ihn getötet. Sorry, Bruder"
Im September 2012 ermordete Bogdanow in Nowgorod einem Impuls folgend einen zufälligen Bekannten, der ihn zuvor auf ein Getränk zu sich nach Hause eingeladen hatte. Die Tat schilderte der 35-Jährige Ende Januar in einem Interview mit dem oppositionellen Medium "Holod". Demnach schlug Bogdanow auf sein Opfer - den jungen Richter Sergej Shiganow - zunächst mit einem Schürhaken ein, dann folterte er den Mann stundenlang und tötete ihn schließlich, indem er eine kiloschwere Hantel dreimal auf dessen Kopf fallen ließ.

Stanislaw Bogdanow folterte einen zufälligen Bekannten stundenlang und tötete ihn dann mit einer Hantel.
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Auch mehr als zehn Jahre später bereut Bogdanow seine Tat offenbar nicht. Im Interview rechtfertigte er den Mord mit der Abneigung gegenüber Justizbeamten. Nach seinen Worten würden Richter Straffreiheit genießen: "Sie fahren betrunken Auto, verletzen dabei Menschen und kommen ungestraft davon", sagte Bogdanow. Als die Journalistin anmerkte, dass über Shiganow nichts dergleichen bekannt war, entgegnete der Mörder, dieser habe "gerade erst angefangen". Und fragte zurück: "Wer weiß, vielleicht hat er kleine Mädchen vergewaltigt?"
In der Ukraine war Bogdanow nur acht Tage im Einsatz - dann wurde er verwundet, kam ins Krankenhaus und schließlich in das Rehazenturm auf der Krim. Sein Leben fühle sich nun wie ein "Märchen" an, sagt Bogdanow im Interview. Nach seinen Worten bekommt er auch weiterhin 200.000 Rubel Gehalt pro Monat - umgerechnet rund 2600 Euro. Jetzt wolle er ein neues Leben anfangen, sagt Bogdanow: Nicht mehr stehlen, sondern Geld verdienen, ein Haus bauen. Und er will auch das Grab seines Opfers besuchen. "Wir haben uns nicht verstanden und ich habe ihn getötet. 'Sorry, Bruder' - das werde ich ihm sagen."
NGO: Neun von zehn Häftlingen sterben an der Front
Bogdanow hat eine zweite Chance bekommen. Viele seiner Kameraden hatten weniger Glück. Wie die russische Armee spricht auch die Söldnergruppe Wagner nicht über eigene Verluste. Menschenrechtler gehen aber davon aus, dass von zehn rekrutierten Häftlingen nur einer den Einsatz in der Ukraine überlebt. Diese Zahl nannte Iwan Astaschin von der NGO "Solidarity Zone" unter Berufung auf eine Quelle in einem Gefängnis in einem Interview mit Radio Liberty.
Einige der Überlebenden sind Astaschin zufolge als Personen identifiziert worden, die in den Straflagern zusammen mit Wächtern an Folterungen anderer Gefangener beteiligt waren. "Das sind Leute ohne jeden moralischen Kompass." Der Menschenrechtler vermutet, dass diese Häftlinge in der Ukraine in Sperreinheiten eingesetzt werden, deren Aufgabe es ist, Deserteure zu erschießen. Aus diesem Grund würden gerade diese Menschen eine bessere Chance haben, zu überleben.
Diejenigen, die in der Ukraine sterben, werden posthum ausgezeichnet. So kommt es immer wieder vor, dass schlimme Verbrecher als Helden gefeiert und mit militärischen Ehren beigesetzt werden. Wie etwa Sergej Molodzow, der seine Mutter getötet hatte und 2017 zu mehr als elf Jahren Haft verurteilt wurde.

Begräbnis mit militärischen Ehren von Sergej Molodzow, der seine Mutter getötet hat.
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Oder Witalij Wasjagin: Anfang der 2000er Jahre ermordete er seine Nachbarin. Nachdem er seine Strafe dafür abgesessen hatte, erwürgte er 2017 noch eine Frau, schnitt ihr die Kehle durch und warf ihren Körper in eine Kompostgrube. Dafür wurde er zu 14 Jahren Haft verurteilt. Auch er starb in der Ukraine und wurde mit militärischen Ehren beigesetzt.
Mörder von Kriegsveteranin soll "mit Respekt behandelt werden"
Prigoschin feiert seine "Jungs" - und kann im Gegenzug mit ihrer Zuneigung rechnen. Als "unseren zweiten Vater" bezeichneten verwundete Kämpfer ihren Chef, als er sie Anfang Januar in einem Krankenhaus auf der Krim besuchte. Prigoschins "Ria Fan" berichtete ausführlich auch über dieses Treffen. Journalisten des kreml-kritischen Mediums "Agentstwo Nowosti" konnten einen der Männer im Video als Dmitri Karjagin identifizieren. 2014 ermordete er mit einem Hammer seine 87-jährige Großmutter, eine Veteranin des Zweiten Weltkriegs. 2016 wurde er zu mehr als 14 Jahren Haft verurteilt. Nach dem Einsatz in der Ukraine soll er nun freikommen.

Dmitri Karjagin tötete 2014 seine Großmutter, eine Veteranin des Zweiten Weltkrieges.
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Neben Medaillen für die "Tapferkeit" und der Freiheit verspricht Prigoschin seinen Kämpfern auch gesellschaftliche Anerkennung. "Die Polizei muss euch mit Respekt behandeln", sagte Prigoschin, der ein Vertrauter des Kreml-Chefs Putin ist, bei dem Treffen.
Mit Hakenkreuz-Tattoo im Einsatz gegen "Nazis"
Wenige Tage später posierte Prigoschin für "Ria Fan" mit ein paar Dutzend Männern, die nach seinen Angaben nach sechs Monaten Dienst jetzt die Begnadigung bekommen würden. Auch diese wurden mit Medaillen ausgezeichnet und - bevor sie in die Freiheit entlassen werden - ermahnt, "nicht zu viel zu trinken, keine Drogen zu nehmen, keine Weiber zu vergewaltigen".
"Important Stories", ein unabhängiges russisches Exil-Medium, konnte fünf der Männer identifizieren. Die Internet-Zeitung veröffentlichte auch Fotos der Kriminellen. Auf einem davon ist Alexander Suetow zu sehen. Der 34-Jährige posiert mit nacktem Oberkörper und einer Dose Bier in der Hand. Seine Brust ziert ein Hakenkreuz-Tattoo. 2020 wurde Suetow wegen mehrerer Raubüberfälle zu zehn Jahren Haft verurteilt. Nach seinem Einsatz im Krieg, dessen Ziel laut Kreml unter anderem die "Denazifizierung" der Ukraine ist, ist der Mann mit dem Hakenkreuz nun offenbar auf freiem Fuß.
Dmitrij Karawajtschik, noch ein Mann, der von Prigoschin für "Tapferkeit" ausgezeichnet wurde, ist kein Unbekannter. Der Prozess gegen ihn und seine Frau sorgte 2019 für Schlagzeilen in ganz Russland. Der Tierarzt aus St. Petersburg hatte ein Drogenlabor eingerichtet, seine Gattin war für den Verkauf zuständig. Die Presse machte auf die Ähnlichkeit seiner Geschichte mit der der Hauptfigur der Erfolgsserie "Breaking Bad" aufmerksam. Der "russische Walter White" wurde 2019 zu 17 Jahren Haft verurteilt und kommt nun auch vorzeitig frei. "Ria Fan" zufolge sagte der Drogenhändler, er hoffe, er könne nun auch "irgendwie seine Frau rausholen", die bis 2034 einsitzen muss. "Die Ermittler werden sehr überrascht sein, wenn sie mich sehen", lachte Karawajtschik. Von drei weiteren Kriminellen, die "Important Stories" identifizieren konnte, saßen zwei Männer Haftstrafen wegen Mord ab. Ein weiterer war wegen mehrfacher Raubüberfälle verurteilt worden.
Millionär lässt ganze Familie erschießen und setzt sich in die Türkei ab
Nach der Veröffentlichung des Videos Anfang Januar schrieb Olga Romanowa, Gründerin der Menschenrechtsorganisation "Russland hinter Gittern", auf Facebook, all die Männer, die von Prigoschin ausgezeichnet und deren Strafen angeblich erlassen wurden, würden nach 45 Tagen wieder "zurückgerufen". Sie hätten alle ihre Verträge mit der Söldnergruppe verlängert. Diejenigen, die nicht verlängert hätten, seien bereits an der Frontlinie gestorben, schrieb die Menschenrechtlerin, ohne konkreter zu werden.
Ob die Menschenrechtlerin recht hat oder nicht, ist nicht überprüfbar. Allerdings gibt es tatsächlich einen Verbrecher, der es geschafft hat, nach sechs Monaten in der Ukraine auf freien Fuß zu kommen und sich in die Türkei abzusetzen. Der Millionär Alexander Tjutin hatte insgesamt fünf Morde in Auftrag gegeben. 2018 engagierte der Immobilienmakler einen Killer, um seine Nichte - und potenzielle Erbin - zu beseitigen. Jahre zuvor, 2005 organisierte Tjutin den Mord an der Familie eines Konkurrenten. Der Auftragsmörder erschoss damals einen Mann, seine Frau und zwei minderjährige Töchter des Paares.
"Ein Mörder ist viel mehr wert, als unerfahrene Jungen"
Bemerkenswert ist die Reaktion Prigoschins auf den Fall Tjutin. Als eine regierungstreue Zeitung den Wagner-Chef fragte, ob er es in Ordnung finde, dass solch ein Verbrecher dank ihm nun frei ist, reagierte Prigoschin verwundert. "Ein bestimmter Häftling hat als Immobilienmakler eine vierköpfige Familie getötet. Sie kennen diese Familie nicht und haben sie nie gesehen. Aber Sie ärgern sich über diese Tatsache", schreibt Prigoschin in seiner Antwort. "Er ist ein Mörder, und im Krieg ist er viel mehr wert als unerfahrene Jungen." Dann fragt er die Leser, was ihnen lieber sei: dass ein Mörder in den Krieg zieht, "oder eure Verwandten, die, anders als ein Mörder, in Zinksärgen zurückkehren werden". Zum Schluss erkundigt sich Prigoschin bei den Journalisten der Zeitung, ob es unter ihnen Menschen gibt, die sich seiner Söldnergruppe anschließen würden. "Oder seid ihr alle Weicheier?"
Stanslaw Bogdanow ist kein "Weichei". Trotz aller Gefahren eines Kriegseinsatzes und seines nun fehlenden Beins verbindet der Mörder aus Nowgorod seine Zukunft mit Wagner. "Sie haben mir eine Tür geöffnet", sagt er im "Holod"-Interview. "Das Unternehmen expandiert", erklärt er mit Blick auf die Söldnergruppe. "Wir werden immer Geld haben. Wir werden Arbeit haben, auch wenn dieser Krieg vorbei ist. Anderswo geht er ja weiter."
Quelle: ntv.de