Reisners Blick auf die Front "Entscheidende Phase der Gegenoffensive dürfte begonnen haben"
05.06.2023, 19:50 Uhr Artikel anhörenRussland wehrt in den vergangenen 48 Stunden mehrere Angriffe entlang der Frontlinie ab. Moskau zufolge sei damit die Offensive gestartet - die Ukraine dementiert. Tatsächlich gebe es Indizien dafür, dass die Ukraine Brigaden der Offensive einsetze, erklärt Oberst Markus Reisner im Interview mit ntv.de. Erstmals wurde der Leopard-Panzer auf Drohnenaufnahmen gesichtet. Auch hinter den Angriffen auf russischem Boden stecke eine ukrainische Strategie, auch wenn Kiew das nicht offen zugeben wolle.
ntv.de: Die Ukraine soll mehrere große Angriffe in Donezk gestartet haben. Moskau zufolge waren sie dabei nicht erfolgreich, ein russischer Feldkommandeur hat dem widersprochen. Was lässt sich bisher über die Kämpfe sagen?
Markus Reisner: Es kursieren bereits Videos von den Gefechten, die eine erste Einschätzung zulassen. Nördlich von Mariupol im Zentralraum gab es einen sogenannten Frontvorsprung. Dort ist es der ukrainischen Seite mit intensiven Angriffen auch gelungen, Raum zu gewinnen. Einen wirklichen Durchbruch gab es aber nicht, sondern nur Geländegewinne von mehreren Hundert Metern bis zu zwei Kilometern, dann sind die Ukrainer auf sehr starkes Abwehrfeuer der russischen Kräfte getroffen. Dabei haben sie auch Verluste erlitten.

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.
(Foto: privat)
Die Aussagen Moskaus stimmen also?
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir hier wieder einen Informationskrieg erleben, in dem beide Seiten versuchen, die Initiative für sich zu gewinnen. Das beweisen die Aussagen der russischen Seite, die diese Vorstöße sofort als gescheitert abtut und behauptet, diese Offensive im Keim erstickt zu haben.
Warum widerspricht ein russischer Feldkommandeur den Behauptungen dann prompt wieder? Ist das nicht kontraproduktiv?
Das haben wir in den letzten Wochen und Monaten öfters gesehen. Das beste Beispiel dafür ist Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin, der immer wieder mit gewissen Aussagen den Eindruck bei den Ukrainern erwecken wollte, dass seine Truppe geschwächt ist, nur um dann starken Widerstand zu leisten. Zwischen dem, was gesagt wurde und was passiert ist, gab es große Unterschiede. Konkret haben wir das in Bachmut gesehen, als Prigoschin behauptete, er habe nicht genug Waffen und Munition, was, wie sich später herausstellte, nicht der Wahrheit entsprochen hat. Gleichzeitig macht sich auch auf unterster Ebene von russischer Seite Widerstand unter den Kommandeuren bemerkbar.
Kann nach den ukrainischen Angriffen von heute davon ausgegangen werden, dass die Vorbereitungsphase abgeschlossen ist und die Ukrainer jetzt die entscheidende Phase der Gegenoffensive beginnen?
Es gibt Indizien dafür, dass die nächste Phase nun begonnen hat. Das sieht man daran, dass offenbar schon Brigaden der Offensive im Einsatz sind, die amerikanisches Gerät einsetzen, die sogenannten MRAPs (Mine Resistant Ambush Protected Vehicle, englisch für "Minengeschütztes Fahrzeug"). Es hieß immer: Wenn wir die ersten Leopard- und Challengerpanzer oder Minenräumpanzer sehen, dann können wir davon ausgehen, dass es jetzt wirklich begonnen hat. Und davon haben wir jetzt die ersten Bilder. Wir können also davon ausgehen, dass jetzt die entscheidende Phase der Gegenoffensive begonnen hat. Die Ukrainer haben vor circa 48 Stunden ihre Kräfte entlang der gesamten Frontlinie bereitgestellt. Kleinere Verbände haben versucht, an verschiedenen Stellen vorzustoßen, offensichtlich um zu schauen, wo sich möglicherweise Lücken in den russischen Verteidigungsstellungen befinden. Das sind Sondierungsangriffe, um Informationen zu erhalten und um russische Kräfte entlang der Frontlinie zu binden. Im Kontext funktioniert es so: Eine militärische Operation beginnt immer mit der sogenannten Vorbereitungsphase, von der wir immer wieder gelesen haben. Darauf folgt die entscheidende Phase, die jetzt eingeleitet worden ist.
Woher wissen Sie, welche Panzer in welcher Brigade im Einsatz sind?
Vieles wurde durch die Leaks der Amerikaner bekannt. Darin gibt es eine detaillierte Aufschlüsselung, wie die Gliederung ist. Das wurde kürzlich durch ein Promovideo der Ukrainer für die Offensive bestätigt, in dem man Leopard-Panzer gemeinsam mit MRAPs sehen konnte. Das war höchstwahrscheinlich die 33. Brigade, die für die Offensive im Einsatz ist. Die US-Minenfahrzeuge MRAP sprechen für die 32. Brigade, die aber auch ehemalige russische Panzer benutzen. Wenn der US-Schützenpanzer Bradley auftaucht, weiß man sofort, dass es die 47. Brigade ist, die auch eine Brigade der Offensive ist.
Russland behauptet, dass bei den Angriffen 20 Panzer der Ukrainer zerstört wurden. Kann man abschätzen, ob die Angaben stimmen?
Nein. Man kann aber davon ausgehen, dass die Russen um das Zwei- oder Dreifache übertreiben. Das sind die Erfahrungen der letzten Monate. Teilweise waren die Zahlen komplett fiktiv, weil laut russischem Verteidigungsministerium mehr HIMARS-Systeme zerstört wurden, als die Ukraine überhaupt besaß. Das machen übrigens beide Seiten.
Nehmen wir einmal an, nur halb so viele Panzer wurden tatsächlich zerstört, also zehn. Sind das hohe Verluste für die Ukrainer bei nur einem Angriff?
Um das einschätzen zu können, muss man zunächst den Aufbau einer Brigade verstehen. Eine Brigade besteht im Kern aus drei sogenannten Grenadierbataillonen. Die bestehen aus circa 500 Soldaten, die auf Schützenpanzern sitzen. Eins der drei ist ein Panzerbataillon, bei dem das Besondere ist, dass es mehr schwere Panzer hat, aber weniger Soldaten als die anderen Bataillone. Als zusätzliches Element gehört noch ein Artilleriebataillon dazu. Wenn die anderen beiden Grenadiere mit Panzern angreifen, unterstützt diese mit Artillerie. Eine Brigade besteht also aus drei Grenadierbataillonen, einem Panzerbataillon und einem Artilleriebataillon. Wenn jetzt zehn Panzer verloren sind, dann hat das Panzerbataillon von seinen drei Kompanien eine verloren. Das heißt, es ist nicht mehr so einsatzfähig wie vorher, auch nicht perfekt ausgestattet, aber es ist immer noch kampffähig.
Wie sieht es mit den Angriffen auf das russische Grenzgebiet um Belgorod aus? Gehören die auch zur Gegenoffensive?
Die Ukraine will jede Verantwortung für die Angriffe von sich weisen. Das hat mehrere Gründe: Einerseits möchte man potenzielle Unterstützer nicht vor den Kopf stoßen. Zweitens möchte man natürlich suggerieren, dass es in Russland intern zu einer Aufstandsbewegung kommt. Tatsächlich kann man davon ausgehen, dass natürlich die Ukraine hinter den Angriffen steckt. Das ist nichts Neues. Das gleiche haben sie bei der Versenkung der Moskwa gemacht, die bis heute nie offiziell zugegeben worden ist. Oder vor kurzem bei den Angriffen in Moskau, bei denen die CIA glaubt, die Ukrainer waren's oder bei dem Angriff auf die Krim-Brücke im vergangenen Herbst, wo der ukrainische Geheimdienst erst jetzt seine Beteiligung zugegeben hat. Es gibt hier also keine Frage der Moral. Die Ukraine will den Krieg gewinnen und tut dafür alles, was nötig ist.
Welche Strategie verfolgen sie mit den Angriffen in Belgorod?
Die große Idee dahinter ist, die 1200 Kilometer lange Frontlinie nochmal um 500 Kilometer nach Norden zu verlängern und die Russen zu zwingen, ihre Kräfte noch mehr aufzuteilen, damit man dann im Süden möglicherweise vorstoßen kann.
Haben die russischen Partisanengruppen überhaupt genug Kämpfer, um gegen die russische Armee standzuhalten?
Sie meinen, ob sie in der Lage sind, mit einem Kampfpanzer und zehn gepanzerten Fahrzeugen bis nach Moskau vorzustoßen? Natürlich nicht, nein.
Dann greifen sie an, um zu sterben?
Ja, das sind Himmelfahrtskommandos. Sie dienen dazu, den Druck für die ukrainischen Soldaten im Süden zu verringern, weil die Russen Kräfte in den Norden schicken müssen. Das heißt, sie marschieren in russisches Gebiet ein, machen ein paar Bilder und versetzen die Welt damit in Aufruhr und versuchen sich dann wieder abzusetzen. Entweder es gelingt ihnen oder sie werden von den Russen erwischt. Es gibt Fälle, in denen sie es zurück über die Grenze schaffen, aber auch die, die es nicht geschafft haben.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de